Wind der Geschichte

Helmut Kohl hat seine Memoiren geschrieben. Übel gelaunt präsentierte er sie der Presse. von heike runge und stefan wirner

Ganze 16 lange Jahre war er der Kanzler von Deutschland. Helmut Kohl ist an Deutschland nicht spurlos vorbeigegangen. Und Deutschland nicht an Kohl. Beide jedenfalls, Kohl und Deutschland, sind in dieser Zeit immer voluminöser geworden. Aber Glück sieht anders aus. Wie ein zu groß dimensioniertes Denkmal auf zu niedrigem Sockel sitzt Helmut Kohl auf dem Rednerpodium und äugt mit finsterer Miene misstrauisch in den Konferenzsaal des Berliner Hilton. Was er dort sieht, mag er nicht: Journalisten.

»Kohls Opus Magnum« nennt Peter Übleis vom Droemer Verlag euphorisch das Buch, um das es heute geht. »Erinnerungen 1930–1982«. Ein zweiter Band über die achtziger und neunziger Jahre soll folgen. Geschrieben sind die »Erinnerungen« für die »Vätergeneration«, die »Söhnegeneration« und die »Enkelgeneration«, sagt Herr Übleis und vergisst gleich drei Zielgruppen auf einmal. Denn kaufen und dafür sorgen, dass das 700 Seiten dicke Buch die Bestsellerlisten erklimmt und Geld in die Kassen des Verlags spült, werden es nicht zuletzt die Mütter, Töchter und Enkelinnen.

Mächtige Falten durchziehen das Gesicht des Dr. Helmut Kohl, der sich heute Vormittag aus der Tiefe einer vergangenen Epoche in die Banalität der Berliner Gesellschaft bequemt hat. Als ein kleiner schnittiger Mann mit randloser Brille den Saal betritt, entspannt sich die Miene des Altkanzlers auf einen Schlag. Über zehn Stuhlreihen hinweg wirft er ihm ein breites Verschwörerlächeln zu. Horst Teltschick fängt es auf und lächelt freundlich zurück.

»Er war mir ein treuer Wegbegleiter in vielen Jahren«, schreibt Kohl in seinen »Erinnerungen« über seinen damaligen außenpolitischen Berater. Ein treuer Begleiter ? Das ist wohl respektvoll gemeint. Klingt aber ein bisschen so, als spreche hier jemand von seinem Dackel.

Ansonsten pampt und meckert er herum auf der Präsentation seiner Memoiren, die am Donnerstag voriger Woche stattfand. Wie Klaus Kinski in seinen besten Tagen fährt er die Presseleute an. Nicht eine Frage findet Gnade vor dem Altkanzler, und deshalb gibt es auch keine Antworten, sondern lediglich Kommentare zu den Fragen, die von den Journalisten gestellt wurden. Helmut Kohl hat eine Fragenallergie, die mit der Zeit immer schlimmer geworden ist. Jahrzehntelang darauf trainiert, Fangfragen zu erkennen und unschädlich zu machen, gilt dem Kohlschen Abwehrsystem heute jede interessierte Frage als böse Falle, die mit überschießenden Reaktionen bekämpft werden muss.

Da wird der schüchterne Redakteur der Sächsischen Zeitung genauso heruntergeputzt wie der Rambo-Reporter im »Boss«-Look von Spiegel TV. Ob das Buch helfen könne, den Leuten im Osten die Politik der Nachwendezeit näher zu bringen, hatte der höfliche Frager wissen wollen. Doch statt einer Auskunft hatte es Unterstellungen gehagelt. Er, Kohl, sei äußerst populär im Osten des Landes, da gebe es keinen Nachholbedarf. Und an die Adresse des Fragestellers gerichtet, Zweifel an dessen intellektuellen Fähigkeiten: »Ich sehe doch, wie es in Ihnen arbeitet«, sagt Kohl. Mit »es« ist das berühmte Zitat von den »blühenden Landschaften« gemeint, auf das sich die Presse geworfen habe, ohne es je verstanden zu haben.

Nur einmal macht Kohl eine Ausnahme und gibt eine direkte Auskunft. Frage: Wie kommt Schäuble in dem Buch weg? Antwort: Er kommt gar nicht vor.

Über Horst Köhler, den gerade frisch gekürten Präsidentschaftskandidaten der Union, der FDP und des IWF, äußert sich Kohl in einer Weise, als habe er den Mann persönlich in das Präsidentenamt berufen. Köhler ist für das Amt »in hervorragender Weise geeignet«, er ist der »beste Sachkenner der nationalen und internationalen Wirtschafts- und Währungspolitik«. Vielleicht wäre Köhler besser als Wirtschaftsminister geeignet. Aber Widerspruch, heute, hier, im Hilton? Eigentlich undenkbar.

Kohl ist Kanzler auf Lebenszeit. Nein, jetzt ist er sogar »Altkanzler« und noch unangreifbarer. Er schwebt in höheren Regionen und spricht tatsächlich die Sätze, die längst dem Zitatenschatz der deutschen Sprache angehören. Über dies und das sei »der Wind der Geschichte längst hinweggegangen«, andernorts liegt er noch, der »Staub der Geschichte«.

Auf die Frage der Jungle World, ob in den Memoiren etwas zur Parteispendenaffäre der CDU zu lesen sei, möglicherweise gar die Namen der Spender, blafft Kohl zurück: »Ich habe in dieser Sache eine absolut endgültige Antwort gegeben, die werde ich nicht ändern.« Doch welche Antwort hat er in diesem größten Korruptionsskandal der deutschen Nachkriegsgeschichte gegeben? Die Antwort, dass er keine Antwort geben wird.

Er trägt ihn am eigenen Leib, den Mantel der Geschichte. Maggie Thatcher, Charles de Gaulle, Franz-Josef Strauß, keiner fehlt in seiner Erzählung. Die ganze Bande ist im Geiste im Hilton versammelt. Die Nato-Nachrüstung, die Wiedervereinigung, die gesamte Nachkriegshistorie lässt Kohl Revue passieren.

Seine Memoiren hat er geschrieben, weil seine Frau Hannelore das immer gewollt habe. Und dann gibt es noch einen zweiten wichtigen Grund. Neuerdings sieht Kohl, sagt er, dass »Geschichtsfälscher in breiter Front unterwegs« sind. Achtung vor umherlaufenden Geschichtsfälschern! Das klingt nach Eduard Zimmermanns legendärer Warnung vor »Neppern, Schleppern, Bauernfängern«. Die Nepper und Schlepper, auf die der Memoirenschreiber anspielt, heißen Angela Merkel und Brigitte Baumeister. Beide sind mit großem Erfolg auf dem Sachbuchmarkt unterwegs. Da musste er natürlich tätig werden und der Bande das Handwerk legen. Denn immer wieder hatte er Falschdarstellungen lesen und dabei denken müssen: »Es war doch ganz anders.« Seine Memoiren sind aber »kein Buch der Rache«, es präsentiert nur die »Ereignisse aus seiner Sicht«.

Die lesen sich in dem Buch dann so, dass man wirklich glauben möchte, Kohl habe es tatsächlich eigenhändig im Keller seines Hauses in Oggersheim verfasst, ohne einen Ghostwriter zu bemühen. Kohl ist alles andere als ein mitreißender Erzähler. »Ich bin ein klassisches Beispiel dafür, welchen Einfluss das Elternhaus hat«, lautet der erste unbeholfene Satz des Buches. Ansonsten: Wind, Treue, CDU sind die wiederkehrenden Motive. »Welche Winde im Lauf der Zeit doch an einem Menschen vorbeirauschen, besonders in einer Übergangsperiode, wie ich sie erlebt habe.« Ja, rauschende Winde. Winde der Geschichte. Geschichtswinde.

Um 12 Uhr mittags ist Ende der Fragestunde. Antworten gibt es heute keine mehr. Draußen vor dem Hilton pfeift eisig der Wind.

Helmut Kohl: Erinnerungen 1930-1982. Droemer, München 2004, S.684, 28 Euro