Drei Tage in Madrid

Spaniens Konservative konnten von dem Attentat in Madrid nicht profitieren. In drei Tagen schlug die Stimmung um. von tom kucharz, madrid

Erst in der Nacht zum Wahlsonntag, es ist ein Uhr, gesteht auch der spanische Innenminister Angel Acebes ein, dass die bisher gefundenen Beweise und Festnahmen im Zusammenhang des Bombenanschlags in Madrid keinen Zweifel lassen. Verantwortlich für das Blutbad in den S-Bahnzügen ist al-Qaida; die Eta-Version, die die konservative Volkspartei (PP) bevorzugte, ist Geschichte.

Nicht zuletzt wegen ihres durchschaubaren wahltaktischen Kalküls verlor die PP am Sonntag die Parlamentswahlen. Die in den letzten Meinungsumfragen noch wie eine Verliererin aussehende Sozialistische Arbeiterpartei (PSOE) errang 42,6 Prozent der Stimmen, die PP, zuletzt mit einer absoluten Mehrheit ausgestattet, erhielt nur 37,7 Prozent.

Am Donnerstagmorgen, als mitten in der Rush Hour in vier voll besetzten Madrider S-Bahnzügen, in den Stationen Atocha, El Pozo und Santa Eugenia, zehn Sprengsätze explodierten und 201 Tote und etwa 1 500 Verletzte als Bilanz des schwersten Attentats der spanischen Nachkriegsgeschichte zu beklagen waren, geht man fast im ganzen Land noch von einem Anschlag der Eta aus, der baskischen Separatistenorganisation.

Von der Unglücksstelle flüchtend, rufen bereits viele ihre Familien oder Freunde per Handy an. Schnell bricht das Mobilfunknetz zusammen. Jeder will sich vergewissern, dass seinen Angehörigen nichts passiert ist. Während der Bergungsarbeiten klingeln noch Stunden später die Handys der Todesopfer.

Viele kennen ein Opfer oder jemand, der ein Opfer kennt. Ein Lehrer berichtet, dass zwei seiner Schüler und die Eltern einer Schülerin ums Leben gekommen sind. An vielen Schulen fällt der Unterricht aus, in der Universität wird am Donnerstag sowieso gerade gestreikt. Auf den Straßen sieht man zur Mittagszeit viele Arbeiter in Gruppen versammelt. Das Attentat ist das einzige Gesprächsthema.

Dennoch geht die Mehrheit der Bevölkerung ihrer Arbeit nach, der öffentliche Nahverkehr, abgesehen von der S-Bahn, funktioniert weiter, auf dem Flughafen herrscht Ruhe und in den Einkaufszentren laufen die Geschäfte normal. Einige hundert Personen versammeln sich spontan im Stadtzentrum. »Eta Nein« steht auf ihren selbst gebastelten Transparenten.

»Man sollte ihnen die Hände abschlagen«, fordert eine aufgebrachte Frau im Radio. »Nazis, Bestien ohne Recht auf irgendwas«, schimpft ein junger Mann.

Landesweit stellen sich Tausende stundenlang an, um Blut zu spenden, das Mitgefühl ist enorm. In zahlreichen Städten gibt es Solidaritätsbekundungen. Bereits gegen Mittag tauchen auf den Balkonen die ersten spanischen Fahnen auf. Alle öffentlichen Gebäude werden mit den Nationalfarben und einer schwarzen Schleife bestückt. Medien und Politiker mahnen zur »nationalen Einheit« und fordern eine hohe Wahlbeteiligung am Sonntag, um die »Demokratie zu verteidigen«. Die Wahlbeteiligung fällt auch mit mehr als 77 Prozent sehr hoch aus.

Arnaldo Otegi, Sprecher der verbotenen Herri Batasuna, ist der erste Politiker, der die Urheberschaft der Eta kategorisch ausschließt. Für die Regierung gibt es am Donnerstag gegen 13 Uhr auf der ersten Pressekonferenz hingegen »keinen Zweifel«, dass die Eta die Attacke verübte.

Eine Stunde vor dieser Pressekonferenz wird in Alcala Henares, wo die Bombenzüge Richtung Madrid abfuhren, von Sicherheitsbeamten ein PKW beschlagnahmt, in dem sich mehrere Zünder und Videocassetten islamischen Inhalts befinden. Innenminister Angel Acebes verliert kein Wort über den Fund. Erst spätabends informiert er die Presse und gibt den »Befehl« aus, »keinen Ermittlungsweg auszuschließen, obwohl alle Indizien auf die Eta zeigen«.

Für die am Abend im Zentrum versammelten Menschen ist es mehrheitlich egal, ob es die Eta war oder al-Qaida. Einzelne fordern die Todesstrafe für die Täter, andere weinen einfach nur still. Eine Argentinierin, Marisa, bewegt das Schicksal der Migranten: »Wer wird sich um die zahlreichen Menschen ohne Papiere sorgen, die in den Zügen umkamen oder verletzt wurden?« In den Pendlerzügen waren viele illegalisierte Osteuropäer und Lateinamerikaner unterwegs.

Der scheidende Ministerpräsident Jose Maria Aznar von der PP kündigt am nächsten Tag an, allen Angehörigen jener Migranten, die zu den Opfern zählen, sofort die spanische Nationalität zuzuerkennen. »Bei mir provoziert es Brechreiz und Ekel, wie die PP die Leichen für ihre Wahlkampagne funktionalisiert«, sagt dazu der Generalsekretär der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft CGT, Eladio Villanueva.

Bei den 15minütigen Arbeitsniederlegungen, zu denen die Gewerkschaften aufgerufen haben, kommt es vereinzelt zu Handgreiflichkeiten. Während die einen »Eta – Mörder!« rufen, skandieren andere: »Nein zum Krieg!« Um 18 Uhr schließen alle Geschäfte, die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel ist kostenlos. »Niemand darf heute zu Hause bleiben«, sagen die Radiomoderatoren. Mehr als elf Millionen Menschen, allein 2,3 Millionen in Madrid, gehen auf die Straße, obwohl viele merken, dass sie von der Regierung instrumentalisiert werden.

»Sie verschweigen uns die Wahrheit über den Tod unserer Nachbarn, weil es sie den Wahlsieg kosten kann«, vermutet Sarah von den »Müttern gegen Drogen« aus Vallekas, einem Arbeiterviertel, aus dem viele Opfer stammen.

»Wenn al-Qaida das Massaker verübte, dann liegt die Verantwortung für die Toten bei der Regierung«, sagt Montserrat Galceran, Philosophin an der Universidad Complutense de Madrid, »da sie uns gegen unseren Willen in die erste Reihe des globalen Krieges katapultierte«. So oder so ähnlich denken viele Spanier und bis zum Wahlsonntag werden es immer mehr.

In Barcelona, wo die Medien die Möglichkeit eines al-Qaida-Anschlags eher in Betracht ziehen, dominiert diese Sichtweise schon am Freitag die Demonstration. Spitzenpolitiker der PP werden als Mörder beschimpft und abgedrängt.

Obwohl die Kandidaten am Tag vor den Wahlen keine Statements mehr abgeben sollen, erscheint in El Mundo ein Interview mit Mariano Rajoy, der Aznars Nachfolger werden soll. Im Verlauf des Tages verbreitet sich die Nachricht, dass vor den Parteizentralen der PP gegen den Missbrauch der Anschläge zu Wahlkampfzwecken protestiert wird. Obwohl dem Aufruf anfänglich nur ein paar tausend Menschen folgen, wächst die Demonstration Stunde um Stunde. »Vor den Wahlen wollen wir die Wahrheit wissen«, heißt es, und: »Euer Krieg und unsere Toten«.

Als Rajoy am Samstagabend die Kundgebungen als »illegal« und »antidemokratisch« bezeichnet, und ihre sofortige Auflösung fordert, erzürnt er noch mehr Menschen. Um Mitternacht sind allein in Madrid 30 000 Menschen auf der Straße. »Weder Eta noch al-Qaida noch die PP«, rufen die Demonstranten im Chor.

Anfangs glaubten auch viele Linke an die Täterschaft der Eta. Inzwischen sieht man den Hintergrund für das Massaker in der spanischen Beteiligung am Irakkrieg, dessen »erhebliche Kosten nun Madrids Bevölkerung zu spüren bekam«, so Jaime Pastor von der Alternativen Linken. Jetzt ruft man gemeinsam dazu auf, sich am 20. März massiv an den Friedensdemos zu beteiligen.