Träume der Cartoneros

In der Kölner Ausstellung »Schritte zur Flucht von der Arbeit zum Tun« geht es um Kunst, Politik und widerständige Praxen in Argentinien und Europa. von jessica zeller

Der Ort ist Gegenprogramm. Im Kölner Museum Ludwig, wo sonst nur die Crème de la Crème der modernen Kunst beherbergt wird und sich vor knapp fünf Jahren die Gipfelgrößen der G 8-Staaten am Runden Tisch den Leib voll schlugen, ist seit zwei Wochen Platz für explizit politische Kunst. Am Festessen durften diesmal nur die sonst Ausgeschlossenen teilnehmen. An einen Nachbau des Originaltischs luden die »Glücklichen Arbeitslosen« am Tag vor der Eröffnung ausschließlich Erwerblose und die anwesenden argentinischen Künstler und Politaktivisten ein. Den Besucher erwarteten am nächsten Tag nur die Reste. Statt Erdbeeren, Schampus und Kaviar geleerte Weinflaschen aus dem Supermarkt und Schweinsköpfe aus Plastik, betitelt mit den Namen der politischen Elite Deutschlands.

Kein Schwein heißt Horst Köhler, zu spät ist wohl durchgedrungen, dass er am Tag, als das Essen stattfand, als Kandidat für das Bundespräsidentenamt nominiert wurde. Ironie der Geschichte: Als Chef des Internationalen Währungsfonds ist Köhler mitverantwortlich für die neoliberale Ausrichtung und den ökonomischen Zusammenbruch Argentiniens vor gut zwei Jahren. Die Krise in dem südamerikanischen Land und ihre künstlerisch-politische Verarbeitung – wenn nicht gar Vorwegnahme – ist ein Thema der Ausstellung »Schritte zur Flucht von der Arbeit zum Tun«, die noch bis Mitte Mai in der Domstadt zu sehen ist.

Der andere Schwerpunkt besteht in den Bezügen zwischen der Situation in Argentinien und in Europa. Die Künstlerin und Kuratorin Alice Creischer meint dazu: »Das hier ist keine Ausstellung von argentinischen Künstlern. Es ist sehr wichtig, dass wir auch europäische Künstler dazu eingeladen haben, weil die Krise in Argentinien ja auch global vorbereitet wurde. Wir sagen immer, Argentinien ist eine Form von Avantgarde, was die Zustände in Europa betrifft.« Ihr Kollege Andreas Siekmann ergänzt: »Wir wollten uns mit unserer Ausstellung an keinen Ort verpflanzen lassen. Uns war es wichtig, diese Schnittstelle herzustellen zwischen dem G8-Gipfel und den Auswirkungen, die die dort getroffenen Entscheidungen in einem bestimmten Land, nämlich Argentinien, haben. 1999 entschied man sich für den Slogan, dass Demokratie, Menschenrechte und Marktwirtschaft zusammengehören. Die Arbeiten hier zeigen, dass das nicht stimmt.«

Zwei Jahre haben Creischer und Siekmann zusammen mit argentinischen Künstlern und Künstlerkollektiven, die sich explizit politisch verstehen, zusammengearbeitet und nach europäischen Pendants gesucht, die die dort verhandelten Themen aufgreifen. Vorläufer der Ausstellung war ein Kongress im November letzten Jahres in Berlin mit dem Titel: »Pläne zum Verlassen der Übersicht«. Die dort erarbeiteten Begrifflichkeiten – Negation, Kartografie, militante Untersuchung und politische Erzählung – bilden die vier Themengänge, nach denen die 25 Kunstwerke sortiert sind und denen der Besucher teilweise mit Hilfe eines anleitenden Heftchens folgen und in deren zahlreichen Querverbindungen er sich teilweise auch verlieren kann. Der Titel der Ausstellung wie auch die Verwendung des Begriffs der Negation lehnt sich dabei eng an den Theoretiker John Holloway an. Negation wird hier nicht nur als adornitische Verneinung verstanden, sondern auch als das Schaffen eines positiv Anderen. Flucht meint nicht nur den Rückzug des Kapitals von nicht mehr verwertbaren Orten und Menschen, sondern auch den Weg des freiwilligen Ausstiegs der Betroffenen aus den Systemzwängen, von der Arbeit zum Tun.

Neben dem gefakten Gipfeltisch gehört zum Bereich der Negation unter anderem auch die Arbeit des Holländers Matthijs de Bruijne »www.liquidacion.org«. De Bruijne hat ein Jahr mit »Cartoneros«, den Müllsammlern in Buenos Aires, zusammengearbeitet. »Als ich im September 2002 nach längerer Zeit wieder nach Argentinien gefahren bin, merkte ich, dass sich die Umgebung sehr verändert hatte. Ich bin durch die Straßen gegangen und habe danach gesucht, was mir am meisten aufgefallen ist. Und das waren die Cartoneros. Leute, direkt vor meiner Haustür, die dazu gezwungen sind, im Müll zu wühlen.« Herausgekommen ist bei de Bruijnes Untersuchungen ein Kunstwerk, das ebenso den europäischen Kunstgeschmack bedient, wie es materielle Hilfe für die Cartoneros leistet. Auf einer Homepage werden besonders hübsche und kuriose Fundstücke »fresh from the trash« auf Dollarbasis verkauft. Der Erlös von einem Bündel alter argentinischer Geldscheine, gefunden von Hector, oder einer Plastikente ohne Kopf, gefunden von Fidel, geht direkt an die Müllsammler. Jedes verkaufte Stück erspart zwei Wochen Arbeit. Mehr als die Hälfte der Gegenstände ist bereits über den elektronischen Ladentisch gegangen. Fast schon zynisch: Neuerdings kann der interessierte Besucher auch die nächtlichen Träume der Cartoneros auf CD gepresst erwerben. Hat sich damit der Wunsch Gustavos nach nackten Frauen in einem ordentlichen Wohnzimmer mit Fernseher und Kühlschrank, der ihn zwei bis dreimal die Woche beschäftigt, schon erledigt?

Überhaupt scheinen ein gemeinsames Thema der aktuellen politischen Kunst Argentiniens die Geschichten von konkreten Menschen an konkreten Orten zu sein. Ins Auge fällt dabei besonders der am Eingang der Ausstellung platzierte Container vom Museo del Puerto. Innen drin ist er der »politischen Erzählung« verschiedener Personen gewidmet, die ihren Lebensunterhalt damit verdienen, in der Nähe des Exporthafens von Bahía Blanca im Süden Argentiniens das Getreide aufzukehren, das die Lastwagen auf der Fahrt zur Anlegestelle verloren haben. Später verfüttern sie es an ihre Hühner, die sie dann wiederum als Tauschwährung benutzen.Gleichzeitig repräsentiert das Objekt das Ende der Geschichte: Eine neue Containeranlage der Firma Hamburg Süd sorgt dafür, dass in Bahía Blanca bald kein Korn mehr auf den Boden fällt. »Der Container ist bald derselbe an jedem Ort der Welt«, meint Sergio Reymonde vom Museo del Puerto dazu, »aber es gibt Geschichten an jedem dieser Orte, die man nicht vereinheitlichen kann.«

Weitaus schwieriger als die Darstellung des Alltags gestaltet sich die Repräsentation von künstlerisch-politischem Aktivismus. Die argentinischen Gruppen Etcétera und Grupo de Arte Callejero, die mit mehreren Arbeiten in Köln vertreten sind, können eigentlich immer nur das Geschehene dokumentieren, es werden großformatige Fotos ihrer Aktionen gezeigt oder Grafiken, die dabei verwendet wurden, an die Wand gehängt. Lorena von der Grupo de Arte Callejero äußert sich über diese Problematik später im Gespräch mit der Gruppe Kanak Attak im freien Berliner Radio reboot. fm: »Wir wurden schon oft zu Veranstaltungen und Ausstellungen im Ausland eingeladen. Eigentlich sagen wir meistens ab. Diesmal erschien es uns aber sinnvoll mitzumachen. Nicht wegen des Museums und seiner Reputation, sondern wegen der Diskussionen im Vorfeld der Ausstellung und danach. Mit den verschiedenen argentinischen Künstlern, aber auch mit Gruppen in Deutschland und Europa.«

Ähnlich verhält es sich mit dem Projekt »Tucumán Arde«. Hier dokumentierten argentinische Künstler und Soziologen Ende der sechziger Jahre über Monate hinweg die Lage der Menschen in Tucumán, einer der ärmsten Provinzen im Norden Argentiniens, die zu diesem Zeitpunkt bereits von den negativen Folgen wirtschaftlicher Umstrukturierungsprozesse betroffen war. Später veranstalteten die Künstler mit dem Material die »Erste Biennale« der avantgardistischen Kunst«. Veranstaltungsort war der Sitz der oppositionellen Gewerkschaft CGTA in Rosario. Heute sieht man in Köln zwar Fotos, Poster und Flyer mit Erklärungen, eine Diskussion darüber, was man mit den Mitteln der Kunst heute politisch leisten kann, gibt es dadurch aber noch nicht. Graciela Carnevale, die an den damaligen Aktionen beteiligt war, findet jedoch gerade das entscheidend: »Tucumán Arde war eine Arbeit zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt. Ende der Sechziger hat man in Argentinien und eigentlich weltweit den historischen Prozess als revolutionär begriffen. Das findet heute aus bestimmten Gründen nicht mehr statt. Die Herausforderung besteht deshalb darin, über neue Praktiken für den gegenwärtigen Kontext nachzudenken, um heute die Realität zu verändern.« Das kann mit einem guten Gespräch bei einem Essen beginnen, muss jedoch damit nicht aufhören.

»Schritte zur Flucht von der Arbeit zum Tun«. Museum Ludwig, Köln. Bis 16. Mai