Zeichenkriege

Das Projekt Demokratie hängt von der aufklärerischen Überwindung der Symbole ab. georg seesslen über Fahnen und Metafahnen, Kopftuch, Kippa und Kreuz. Zweiter Teil

Natürlich könnte man die Sehnsucht nach Zeichen, im Guten wie im Bösen, einfach als Reaktion auf den Verlust an eindeutigen Worten und Werten in den öffentlichen Auseinandersetzungen ansehen. Das Wort zeugt nur unzählige Zerfallsprodukte, eine Tat sogar löst sich in der medialen Vervielfältigung auf, aber das Symbol scheint vollkommen mit sich identisch. Es kann nicht zurückgenommen, relativiert oder verfälscht werden. Ein Kopftuch ist ein Kopftuch. Eine Fahne ist eine Fahne. Stimmt das?

Die Fahne entwickelte sich vom Signal der direkten Zugehörigkeit (zu einer konkreten militärischen Einheit, bis ins 19. Jahrhundert) zur nationalen Einheit, die im Grunde einen abwesenden Herrscher darstellt: die Fahne des Königs. Sie muss einerseits bis zum Letzten verteidigt werden, denn der Fall der Fahne hatte nicht selten zur Folge, dass es der realen Majestät an den Kragen ging. Andererseits wird sie »aufgepflanzt«, wo Ländereien in Besitz genommen werden, als könnte sie Wurzeln schlagen. Im »Aufpflanzen« ist die Verkörperlichung des Symbols vom Subjekt auf die Welt als Territorium übertragen.

Die nationale Fahne wiederum schaffte den Sprung zur bürgerlichen Abstraktion, zum strukturierten »Wir«. Daraus entwickelten sich die Metafahnen, die rote Fahne der Revolution, die schwarze der Anarchie, die das Verschwinden dieser Identifizierungen zum Inhalt hat. Neben die Fahne der nationalen Identität tritt die Fahne der »Bewegung« (so wie die Nazis ihre Fahne von der deutschen abspalten mussten und einen doppelten Kult betrieben). Die Fahne bedeutet in diesem Sinn nicht mehr die Zugehörigkeit zu einem nationalen Raum, einschließlich kolonialistischer Inbesitznahme, sondern ideologischen Anspruch. Irgendwann glaubt man sogar, dass das Symbol nichts anderes sei als ein Ausdruck der Wahrheit. Und damit hat sich die Symbolgeschichte selbst in den Schwanz gebissen: Die Autorität des abwesend-anwesenden politisch-religiösen Subjekts hat sich in die umfassendere Autorität der abwesend-anwesenden Ideologie verwandelt.

Eine Herabstufung wie vom Symbol zum Ikon (siehe erster Teil) kann man auch bei der Fahne versuchen: Überzeugung statt Identität. Im Transparent subjektiviert sich die Fahnensprache wieder, die Sprache wird komplex und manchmal beliebig; die Regenbogenfahne steht für den Frieden, die DGB-Fahne für den Streik, die von Borussia Dortmund für den Samstag. Nennen wir solche Fahnen der Einfachheit »Meinungsfahnen«. Sie funktionieren erstens als dezidierte Äußerungen eines Standpunktes, schaffen zweitens Identität und sorgen drittens, wie eine archaische Kriegsfahne, für die Sammlung des eigenen Haufens. Womit wir fahnengeschichtlich wieder im Mittelalter wären, was nichts macht, solange man solche Regression als bewusste und begrenzte vornimmt.

Aber nun ist auch die Sprache der Fahnen gleichsam rückwärts geschrieben, nicht zuletzt, weil die Metafahnen die tödliche Semiotik dann doch nicht beendet haben. Und die böse Pointe dabei ist, dass die Fahnen in einem jeweils verschobenen Konnex benutzt werden. Der Gebrauch der israelischen Nationalfahne als Meinungsfahne in einer Auseinandersetzung, die im großen und ganzen Parameter hat, die mit der Geschichte dieser Fahne wenig zu tun haben, ist zugleich pathetisch und blasphemisch. Aber weil dieser Gebrauch hauptsächlich darauf zielt, ein anderes Ordnungs- und Wertesystem zu ärgern, hat sie auch einen Punk-Charakter. Der natürlich ist ganz und gar unbeabsichtigt, im Gegensatz zu der gar nicht so klammheimlichen Rückbeziehung auf einen längst überwunden geglaubten Gebrauch der Symbole.

Die amerikanische Fahne zum Beispiel wird zugleich als nationale Fahne behandelt wie als Metafahne (die einen Zustand und ein Projekt bezeichnet), aber ebenso als Meinungsfahne – und ein Pop-Symbol ist sie sowieso; sie ist sozusagen die geschichtslose Fahne schlechthin, eine semantische Katastrophe in sich selbst.

Aber auch in der alltäglichen politischen Auseinandersetzung verliert die Fahnensprache ihre historische Verlässlichkeit. Man präsentiert nun Fahnen, die außerhalb der eigenen Identität und außerhalb der eigenen Geschichte stehen. Aus der Meinungsfahne wird die Sympathiefahne, die freilich zugleich eine Nationalfahne ist, aus der man auf diese Weise eine Bewegungsfahne macht. Das Symbol kann sich nach der Globalisierung der Zeichen nicht mehr auf ein konkretes Subjet der Herrschaft und auf eine konkrete Ordnung beziehen, es drückt auf mehr oder weniger leere Weise, obwohl man doch glaubt, eine so dezidierte Meinung zu präsentieren, nur die Sehnsucht nach dem verschwundenen Subjekt und nach der verschwundenen Gestalt der Ordnung aus.

Kurzum, die Befreiung der Zeichen, die Punk einmal bedeutete, wird nun benutzt, um eine willkürliche politische und kulturelle Semantik zu betreiben, bei der beinahe alles profaniert ist, nur der »heilige Ernst« des Symbols eben nicht. Beim Symbol hört der Spaß auf, und das ist der größte Witz unserer Zeichengeschichte. Dass uns beinahe nichts mehr heilig ist, wohl aber die heiligen Zeichen.

Die Renaissance der Fahne als politisches Symbol ist als atavistische Idiotie schon schlimm genug. Noch schlimmer steht es mit der Renaissance der religiösen Symbole, mit denen man gerade noch – war es nicht so? – einen einigermaßen entspannten Umgang pflegte. Der unterschwellige Diskurs ist auch hier klar.

Der allgemeine Konsens zwischen Aufklärung und Kirche, zwischen Politik und Medien scheint der zu sein, dass wir uns im Inneren unserer Räume auf ein mögliches semiotisches Zusammenleben geeinigt hätten (ein freier Umgang mit den guten Symbolen, die Abwehr der bösen Symbole). Den Zeichenkrieg hätten uns demnach die Fundamentalisten als Defensivmaßnahmen für den demokratischen Konsens aufgezwungen. Wir verteidigen also nicht unsere Symbole, wir verteidigen die Freiheit der Symbole. Darauf fallen sogar linke und kluge Menschen herein.

Denn diese Phantasie geht davon aus, dass sich ein säkularer Staat wie der unsere, in dem der Konsens besteht, der Staat mische sich nicht in die Religion und die Religion nicht in den Staat ein, gegen sein Gegenteil wehren müsse. So vertreibt man im aufgeklärten Frankreich das religiöse Symbol als solches, im Leitkultur-Deutschland dagegen nur die »fremden« Symbole aus bestimmten öffentlichen Räumen. Was man abzuwehren behauptet, schafft man dabei erst, nämlich eine staatliche Verfügungsmacht über das religiöse Symbol. Der Pakt der Säkularisierung wird durch seine äußere Aufhebung innerlich aufgehoben; und erst ein genauerer Blick auf die Geschichte dieses Vorgangs macht deutlich, dass dabei mitnichten eine demokratische Konsenssituation verteidigt wurde.

Die Abwehrmaßnahme gegen Kopftücher wurde gänzlich ohne Not zur gesellschaftlichen Schlüsselfrage hochgespielt; sie ist, gemessen an ihren realen Auslösern, eine vollständig symbolische Angelegenheit. Genauer gesagt: Der Zeichenkrieg wurde politisch produziert, und die Gesellschaft hat den Köder geschluckt. Eine Allianz der »Symbolisten«, von Staat, Kirche und, ja, »neuen sozialen Bewegungen« besteht darauf, die postmoderne Herabstufung der Symbole rückgängig zu machen. Ich sehe dein Kopftuch, deine Kippa nicht als Ikon, sondern als Symbol (in einem angeblich symbolisch reinen Raum der Öffentlichkeit); und dein Symbol bezeichnet nicht deine Biografie, sondern es beschmutzt meinen Raum.

So wird im Reich der Symbole eine wiederum symbolische Ordnung geschaffen, die womöglich eine deswegen abwesende Macht bezeichnet, weil sie auf anderem Terrain ihre Bösartigkeit offenbaren müsste. Das Kopftuch muss als Symbol verboten werden, weil es in sich die Verbindung von Religion und Politik offenbart, und ein Raum ohne Symbole wird nur wieder zum Meta-Symbol (das kann man übrigens in der Semiologie des revolutionären und napoleonischen Frankreich studieren, in der faschistischen Raumgestaltung oder in der evangelischen Bilderfeindschaft, nicht dass ansonsten allzu viele Beziehungen zwischen den drei Beispielen behauptet werden sollten, oder?). Das hat nicht mit der Intention sondern mit der »Lesart« zu tun. Es ist die »Aufgabe« des Staates, allen Symbolen zu misstrauen, die nicht die seinen sind, und es ist die »Aufgabe« der Religionen, allen Symbolen zu misstrauen, die nicht die ihren sind. Wahrscheinlich sind Kirchen einfach Organisationen der Symbolbewahrung, und vielleicht sind Symbolbewahrungen immer schon irgendwie religiös.

Es besteht jedenfalls immer eine Gleichzeitigkeit von Erhöhung und Verbot. Mit dem Verbot des Symbols wird es überhaupt erst als solches definiert, so wie das Symbol umgekehrt, etwa im Beispiel unserer Israelfahnen, sich durch die Entortung semiotisch verschärft: In Berlin behauptet diese Fahne eine Eindeutigkeit, eine Einheit, eine Ordnung, die es in Israel selbst nicht gibt und welche die nationale Fahne dort auch nicht behauptet. So kann man noch aus der Entfernung und aus Verkennung der Entdemokratisierung zuarbeiten. Ganz abgesehen davon, dass die Stärke der Symbole immer Ausdruck einer Schwäche der Erkenntnis ist.

Die Lösung also liegt darin, dass nicht nur jedes einzelne Symbol »befragt« werden muss (auf seine Geschichte und seine Praxis), sondern dass auch das Symbol als Sprache in Frage gestellt wird von einem neuen Projekt der Aufklärung. Nicht nur eine Hierarchie der Symbole ist höchst verwerflich (unsere Symbole sind Symbole der Freiheit, eure Symbole sind Symbole der Unterdrückung usw.), vielmehr ist das Projekt Demokratie (gegen alle erdenklichen Masken der Macht) geradezu abhängig von der aufklärerischen Überwindung der Symbole. (So schlecht also steht es um »unsere« Demokratie? Nein, es ist schlimmer!)

Wer Symbole benutzt, verlangt nach einer Ordnung, spricht im Namen einer abwesenden Form von Herrschaft, akzeptiert Unterdrückung bei sich selbst und bei anderen, verlangt danach, einen Raum zu besetzen, den Haufen um sich zu scharen, das Konkurrenzzeichen zu bezwingen. Symbole, ich glaube, ich habe es schon gesagt, sind einfach zum Kotzen.

Der erste Teil des Beitrags erschien in Jungle World 12/04.