Den Bruch wagen

Technik des sozialen Friedens von stefan wirner

Sie warfen Steine, Flaschen und Papierkörbe, die Polizei ging mit Tränengas und Wasserwerfern vor. 3 500 Feuerwehrleute protestierten in der vorigen Woche ausgelassen für die Aufwertung ihres Berufes und einen Renteneintritt mit 55 Jahren. Aber nicht in Stuttgart, Köln oder Berlin. Der Ort der Handlung war Paris. So defensiv die Forderungen der Feuerwehrleute anmuten, vertreten wurden sie in der Tradition des »militanten Reformismus«.

Vor dem Beginn der Kommunalwahlen in Frankreich am 21. März gab es in Paris fast täglich Demonstrationen gegen den Sozial- und Demokratieabbau. Auf die Straße gingen Wissenschaftler, Studierende, Sozialarbeiter, Lehrer, Obdachlose und im Kulturbereich prekär Beschäftigte. In Italien hingegen kam es in der vorigen Woche zum zweiten mehrstündigen Generalstreik innerhalb von fünf Monaten. Gestreikt wurde gegen die Rentenreform der Regierung Silvio Berlusconis. Schulen, Banken und Postämter blieben geschlossen, der öffentliche Nahverkehr kam teilweise zum Erliegen.

In beiden Ländern hat man offenbar anderes zu tun, als sich auf den Aktionstag »für ein sozialeres Europa« vorzubereiten. Der europäische Aktionstag könnte vor allem ein deutscher werden. Und zwar paradoxer Weise deswegen, weil, abgesehen von den Streiks der Studierenden, seit der Demonstration am 1. November 2003 in Berlin praktisch nichts geschehen ist. Noch ein halbes Jahr länger hörte man tatenlos der Bundesregierung, der Opposition und den Wirtschaftsverbänden zu, wie sie sich in ihren Forderungen zum Sozialabbau gegenseitig überboten. Der »militante Reformismus« hierzulande äußert sich in dem Bekenntnis in den Meinungsumfragen, möglicherweise mal nicht die SPD zu wählen. Das ist das höchste der Protestgefühle.

Zugegeben, auch in Frankreich und Italien sind die Gewerkschaften und die soziale Bewegung in der Defensive. Aber sie agieren leidenschaftlicher. In Deutschland hingegen wird ein Warnstreik in der Mittagspause des Betriebs abgehalten, der »echte« Streik darf keinesfalls zu Produktionsausfällen und Staus in den Innenstädten führen, und der Aufstand findet an einem arbeitsfreien Wochentag statt.

Das alles ist nicht nur die Schuld der Gewerkschaftsfunktionäre. Auch bei vielen einfachen Mitgliedern fällt die nationale Propaganda auf fruchtbaren Boden. Auch sie glauben an die »Teamarbeit für Deutschland«, mit der das Wirtschaftsministerium wirbt, auch sie hegen den Verdacht, dass ein Streik den Aufschwung gefährde, wie die Unternehmer in jeder Tarifauseinandersetzung warnen.

In vielen Fragen sind die Interessengegensätze zwischen der Arbeiterschaft und den Unternehmern eingeebnet. Alle wünschen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, ein wohlhabendes Land, in dem konsumiert werden kann, alle klagen darüber, dass ihnen die hohen Sozialkosten teuer zu stehen kämen. Auch viele Lohnabhängige glauben, dass es eben harte Zeiten seien, durch die man hindurch müsse, bis irgendwann der Aufschwung komme.

Solange diese »Konsensgesellschaft«, wie die Bundesregierung sie nennt, funktioniert, solange keine Milieus zusammenfinden, die den »sozialen Frieden« aufkündigen, wird sich nichts ändern. Dass der Bruch von der Antiglobalisierungsbewegung rund um Attac, auf die der DGB setzt, vollzogen wird, ist unwahrscheinlich. Die Forderung nach der Erhebung neuer Steuern deutet nicht in diese Richtung.

Der »soziale Friede«, nicht das geringe Wirtschaftswachstum oder ein angeblich überregulierter Arbeitsmarkt ist die eigentliche german disease.