Raus aus den Hütten

Der höhere Lebensstandard in weiten Teilen Vietnams beschert der regierenden KP eine stabile Basis. von marina mai

Als Holger H. 1994 zum ersten Mal in Vietnam war, ärgerte er sich, weil er sein Obst mit verrosteten Messern schneiden musste. Folglich kaufte der Geschäftsmann rostfreie Messer als Mitbringsel für seine vietnamesischen Gastgeber, als er drei Jahre später wieder an den Roten Fluss fuhr. Die Beschenkten stellten die Messersets, die drei Jahre zuvor noch als europäischer Luxus galten, achtlos beiseite. 1997 gab es sie schon überall zu kaufen.

Vietnam gehörte in den neunziger Jahren mit einem Wirtschaftswachstum zwischen acht und elf Prozent zu den am schnellsten wachsenden Wirtschaftsregionen der Welt. Auf seiner dritten Vietnamreise im Jahr 2000 benötigte Holger H. keine Durchfall- und Magenmedikamente mehr. In Hanoi wurden die Trinkwasserbrunnen inzwischen tiefer gebohrt, die Lebensmittelhygiene hatte sich verbessert.

Ein Mitbringsel kam im Jahre 2000 gut an: Die Mutter eines Deutschen, der in Hanoi für eine Entwicklungshilfeorganisation tätig war, hatte Holger H. damals eine CD mit Weihnachtsliedern und eine Weihnachtspyramide für ihren Sohn mitgegeben. Doch inzwischen gehören auch Weihnachtspyramiden zu den Produkten, die in Fernost billiger produziert werden als im Erzgebirge.

Was vor Jahren noch Mangelware war, gibt es inzwischen an jeder Straßenecke zu kaufen. Vietnam gehört zu den Billiglohnländern, in die internationale Firmen gern die Produktion verlagern. Nach amtlichen Angaben liegt das Wirtschaftswachstum derzeit bei sieben Prozent. Es verspricht den Investoren satte Gewinne. 1994 wusch man in Vietnam seine Wäsche noch mit Kernseife und Waschpaste. Die Kleidung der Menschen war angegraut und fleckig. Inzwischen werden Markenwaschmittel mit optischen Aufhellern im Land zwischen dem Roten Fluss und dem Mekong billig produziert und haben auch in vietnamesischen Haushalten Einzug gehalten.

Als Vietnams Wirtschaft zu Beginn der neunziger Jahre zu boomen begann, profitierte sie von den Potenzialen der asiatischen »Tigerstaaten«, die nach dem Zusammenbruch des realsozialistischen Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe Vietnams wichtigste Handelspartner geworden waren. Einst hatte Europa seine Produktion von Textilien und Schuhen in die »Tigerstaaten« verlagert. Im Laufe der Jahrzehnte stiegen dort die Lohnkosten, und viele Betriebe wanderten 1990 nach China und Vietnam ab, wo die Löhne niedriger waren und Wirtschaftsreformen ausländische Investitionen möglich gemacht hatten.

Als die Wirtschaft nach der Asienkrise 1997 stagnierte, zogen sich viele Investoren zurück. Erst seit 2001 erholte sich die Wirtschaft im Sog des Booms im benachbarten China wieder, die Fortsetzung des Wachstumskurses erfordert jedoch einen ständigen Zustrom an ausländischem Kapital. Die Investitionen sollen nach dem Willen vietnamesischer Politiker auch aus Deutschland kommen. Das Volumen des Handels zwischen Deutschland und Vietnam hat sich seit 1996 mehr als verdoppelt, doch unter den Investoren nimmt Deutschland nur einen bescheidenen 21. Platz ein.

Niedrige Löhne und günstige gesetzliche Rahmenbedingungen reichen jedoch nicht aus, um ausländisches Kapital anzulocken. Vietnam verfügt noch nicht über eine leistungsfähige Verwaltung und Justiz. Bis heute gelingt es dem Staat nicht, Steuern einzunehmen. Derzeit ist ein Gesetz in Vorbereitung, das die oberen Einkommensgruppen zur Zahlung von Lohnsteuern verpflichtet. Die Zeit drängt, denn in Zukunft wird die wichtigste staatliche Einnahme, der Einfuhrzoll, stark zurückgehen. Wegen seiner Verpflichtungen in der asiatischen Freihandelszone Afta muss Vietnam die Abgaben für Importe aus den asiatischen Staaten, seinen wichtigsten Handelspartnern, reduzieren.

Doch bislang lassen die chronisch unterbezahlten Staatsdiener »Steuern« vor allem in die eigenen Taschen fließen. Wer dem Behördenmitarbeiter keinen Geldschein überreicht, kann auf amtliche Papiere jahrelang warten. Oder er muss damit rechnen, dass er ständig beobachtet und für Ordnungswidrigkeiten zur Kasse gebeten wird.

Korruption gab es bereits in der vorkolonialen Zeit, doch ihr heutiges Ausmaß ist auch eine Folge der ungleichen Einkommensentwicklung. Mit dem Wirtschaftswachstum steigen die Lebenshaltungskosten und die Einkommen in der Privatwirtschaft, die inzwischen 62 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erwirtschaftet. Die Staatsangestellten können da nicht mithalten. Bereits Ende der neunziger Jahre hat die vietnamesische Regierung ihnen deshalb Nebeneinkünfte erlaubt. Ein Lehrer darf seinen Schülern gegen Bezahlung Zusatz- und Nachhilfeunterricht erteilen, ein Verkehrspolizist Ordnungsgelder teilweise behalten.

Die legale und illegale Korruption ist im Alltag spürbar, und nicht alle Vietnamesen haben vom Wirtschaftswachstum profitiert. Eine landesweite Arbeitslosenstatistik wird nicht geführt. Die Rate dürfte jedoch weit über den sechs Prozent liegen, die die großen Städte als ihre Arbeitslosenquote angeben, zumal Beschäftigung vor allem in ländlichen Regionen fehlt. In den kommenden Jahren dürfte die Unterbeschäftigung zunehmen, denn die geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge drängen auf den Arbeitsmarkt.

Probleme drohen auch in der Landwirtschaft. Die Produktion der wichtigsten Exportgüter Reis und Kaffee hat so stark zugenommen, dass Vietnam sie auf dem Weltmarkt nicht mehr verkaufen kann. Die Regierung kauft den Bauern einen Teil ihrer Ernte ab und lagert sie für »bessere Zeiten« ein. Doch so wird die Krise nur vertagt.

Dennoch ist die Zufriedenheit mit der Politik der Kommunistischen Partei, der nach wie vor einzigen legalen in Vietnam, recht hoch. Die Menschenrechtsverletzungen etwa gegenüber den Angehörigen der Minderheiten christlichen Glaubens und gegenüber kritischen Publizisten betreffen die Mehrheit der Bevölkerung nicht. Es gibt zwar Aufstände in den Gebirgsregionen, in denen die Minderheiten leben. Doch eine landesweite Opposition fehlt.

Die KP profitiert vor allem von der spürbaren Erhöhung des Lebensstandards. Die Bambushütte ist dem Steinhaus gewichen, und Kinder, die barfuß laufen, gibt es nur noch in entlegenen Landesteilen, um die der Aufschwung bis jetzt einen Bogen macht. Doch obwohl die Armut in den meisten Landesteilen der Vergangenheit angehört, mangelt es noch an vielem.

»Bringen Sie Brillen mit, die die Menschen in Deutschland nicht mehr brauchen«, steht in der E-Mail, die Holger H. von einem Freund in Hanoi bekam. »Viele Menschen hier können sich keine leisten.« Seitdem die Kassen in Deutschland nicht mehr für Brillen zahlen, ist es jedoch schwieriger geworden, Spender zu finden.