Auch Nelken welken
Grândola, vila morena« – dieses Lied war das Zeichen für den Umsturz. Als es in der Nacht zum 25. April 1974 im Radio gespielt wurde, begann die portugiesische Nelkenrevolution. Auch heute noch ist dieser Song des Liedermachers José »Zeca« Afonso bei Demonstrationen in Portugal zu hören, sei es am 1. Mai oder bei Protesten gegen den Irakkrieg. Aber was ist sonst geblieben von den Hoffnungen und Kämpfen nach dem 25. April und jener Revolutionszeit, die eineinhalb Jahre währte, und die den amerikanischen Staatssekretär Henry Kissinger fürchten ließ, Portugal werde Europas Kuba?
»Nichts, gar nichts. Es herrschen Apathie und ein Konformismus unter den Leuten, so als wäre nichts passiert vor 30 Jahren«, meint die Soziologin Elsa Sertório. »Alle Rechte und Errungenschaften, die in der Revolution erkämpft wurden, gehen wieder verloren. Die großen Landgüter sind wieder unbestellt, Fabriken schließen, Schulen schließen, Arbeitslosigkeit, prekäre Arbeitsverhältnisse, nicht gezahlte Löhne – all das wird mit einer unglaublichen Fatalität akzeptiert«, resümiert Sertório verbittert.
Dabei war der Umsturz vor 30 Jahren mehr als die Befreiung von der über 40jährigen Diktatur, die António de Oliveira Salazar etablierte. Das faschistische Regime des 1933 gegründeten Estado Novo (Neuer Staat) wurde nach Salazars Schlaganfall 1968 von seinem Nachfolger Marcello Caetano weitergeführt.
Die Nelkenrevolution von 1974 ist auch Portugals Wegbereiter in die Demokratie und, seit 1986, in die Europäische Gemeinschaft und in die längst überfällige Dekolonialisierung. Portugal hielt nach dem zweiten Weltkrieg, im Gegensatz zu den anderen europäischen Kolonialmächten, an seinen »Überseeprovinzen« (Angola, Mozambique, Guinea-Bissau, Cabo Verde, São Tomé e Principe, Macau, Ost-Timor und bis 1961 Goa bzw. Portugiesisch-Indien) fest – und zwar mit Gewalt. In den portugiesischen Kolonialkriegen von 1961 bis 1974 in Angola, Mozambique und Guinea-Bissau starben Hunderttausende. Viele Portugiesen verließen außerdem ihr Land und gingen unter anderem als »Gastarbeiter« nach Deutschland. Die starke Emigration hatte zur Folge, dass ganze Landstriche in Portugal noch mehr verarmten und verödeten. Trotz der zunehmenden internationalen Isolierung Portugals führte Caetano die Kolonialkriege stur weiter, auch wenn sie am Ende rund 40 Prozent des Staatshaushaltes verschluckten.
Das faschistische Regime ist 1974 daher schon geschwächt und ohne Rückendeckung in der Bevölkerung, als ein Teil der Armee, das mittlerweile legendäre »Movimento das Forças Armadas« (MFA) am 25. April 1974 einen Putsch durchführt. Einziges Ziel ist die Beendigung des Regimes und der Kolonialkriege. In Portugal selbst wird die Revolution jedoch schnell zur Massenbewegung. Oppositionelle kehren aus dem Exil zurück, viele sehen den Zeitpunkt gekommen, ihre Ideen einer sozialistischen Gesellschaft in die Wirklichkeit umzusetzen. »Dennoch begann alles viel einfacher und bescheidener«, meint der damals aktiv beteiligte Historiker António Louçã gegenüber der Jungle World: »Die meisten Menschen träumten nicht von einer besseren und gerechteren Welt, sondern nur von jener minimalen, bescheidenen und konservativen Sache, nämlich in Ruhe und Frieden gelassen zu werden. Denn nicht einmal das gewährte ihnen der Faschismus.« Erst mit dem Beginn der Revolution habe die Mehrheit der Bevölkerung zu verstehen begonnen, dass die Diktatur nicht nur die Männer in den Krieg zwingt, sondern auch die Großgrundbesitzer und Kapitalisten unterstützt.
Die erste der insgesamt sechs Übergangsregierungen besteht aus der sozialistischen und der kommunistischen Partei mit Verbindungen zu marxistisch-leninistischen Gruppen, aber auch das MFA behält starken Einfluss. In den folgenden Monaten schießen die verschiedensten politischen Gruppierungen mit revolutionären, sozialistischen und anarchistischen Zielen aus dem Boden; zeitweise gibt es mehr als 15 Arbeiterparteien. Die Massen sind in Bewegung: Kollektive werden gegründet, Häuser, Ländereien und Fabriken besetzt, viele davon selbst verwaltet weitergeführt. Bei den Kämpfen geht es, Elsa Sertório zufolge, um grundsätzliche Bedürfnisse: »Die Mehrheit der Lohnabhängigen wollte höhere Gehälter und bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen; sie wollte ein Wort mitsprechen können und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.«
Nach einem gescheiterten rechten Putschversuch im März 1975 werden die meisten Banken und Industrien verstaatlicht, Großgrundbesitzer enteignet. Schätzungen zufolge gibt es im Sommer 1975 380 selbst verwaltete Fabriken, 500 Kooperativen und 330 landwirtschaftliche Kollektive. Die Ereignisse überschlagen sich, ein Traum scheint in Portugal wahr zu werden. »Sozialismus war an der Tagesordnung, er war nicht nur eine Phantasie in den Köpfen einer Handvoll Träumer«, sagt António Louçã noch heute.
Die Situation erweist sich aber als nicht stabil. Einerseits können sich die vielen politischen Gruppen nicht auf einen gemeinsamen Weg einigen, so dass es zu einer Zersplitterung der Linken kommt. Andererseits gibt es genügend reaktionäre Kräfte, vor allem unter den Kleinbauern in Mittel- und Nordportugal. Nicht zu unterschätzen ist ebenfalls die internationale Einflussnahme. »Portugal«, sagt Sertório, »war eine kleine isolierte Insel in Europa. Was die Mehrheit der Parteien und Staaten für Portugal wollte, war eine ›Demokratie‹, eine kapitalistische und gut organisierte. So kam es zu dem nächsten Putsch am 25. November 1975.«
Die Revolution ist im April 1976 vorüber. Eine neue, demokratische Verfassung tritt in Kraft, erster Premierminister wird der Sozialist Mário Soares. Auf internationalen und vor allem europäischen Druck werden in den nächsten Jahren die meisten Errungenschaften der Revolution, wie die Enteignungen von Großgrundbesitzern und Industriellen, wieder rückgängig gemacht.
Heutzutage ist die Revolution im portugiesischen Alltag nicht mehr spürbar. Die meisten Jugendlichen wissen kaum etwas über die Kämpfe und Ziele der Revolutionszeit, erklärt Elsa Sertório. Das Thema wird in den Schulen kaum behandelt. Dennoch hat es Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterlassen. Wer diese eineinhalb Jahre miterlebt habe, könne sie nicht vergessen, meint António Louçã: »Die Erinnerung ist der Beweis, dass die Revolution manchmal sehr nahe ist, und dennoch machen wir sie nicht. Sie ist der Beweis, dass es sich lohnt, ohne elitären Hochmut für ganz einfache und anscheinend bescheidene Sachen zu kämpfen. Denn manchmal entstehen aus diesen die großen Revolutionen.«