Das Werden des Wahns

Christian Geulen zeigt, wie die deutsche Gesellschaft sich ab 1870 immer mehr zum nationalistischen Projekt entwickelte. von jan süselbeck

Theodor Fritsch ist nur ein Beispiel. 1903 begann er in seiner Zeitschrift Hammer. Monatsblätter für deutschen Sinn eine Artikelserie über den »Rückgang der blonden Rasse«. Schlimm sei es um den »allgemein deutschen« Typus bestellt, klagte Fritsch damals. »Wir gewahren um uns her allerhand Gesichter, die man wohl eher als slawisch, keltisch, mongolisch, chasarisch, semitisch, ja als negerisch bezeichnen möchte, nur nicht als deutsch.« Es sei allerhöchste Zeit, sich auf jenen »zentrifugalen Wikingerinstinkt« zu besinnen, der die tapferen Urgermanen immer wieder in die Welt hinausgetrieben habe, um für den Erhalt ihrer Rasse zu kämpfen.

Das Beispiel Theodor Fritsch findet sich in Christian Geulens Dissertation zur Geschichte des Nationalismus im 19. Jahhrundert. Was Geulen bei seinem Versuch, die innere Logik des Rassismus zu verstehen, präsentiert, liest sich wie eine endlose Kette grotesker Wahnideen.

Denn Theodor Fritsch war kein Einzelfall. Sein ab 1902 erscheinendes Blatt war nur das langlebigste in einer ganzen Reihe antisemitischer Zeitschriften, die seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts gegründet worden waren. Es verschränkte, wie Geulen herausarbeitet, Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus zu einem ideologischen Wahnsystem, das sich »durch die verschiedensten Verbände, Organisationen und Leserschichten, durch einschneidende historisch-politische Ereignisse hindurch als erstaunlich reproduktionsfähig« erwies, »bis es 1933 staatspolitisches Programm wurde«.

Geulens Funktionsanalyse rassistischer und nationalistischer Ideologien setzt in der Mitte des 18. Jahrhunderts an und beleuchtet den Weg in den deutschen Imperialismus und den Ersten Weltkrieg. In knapp und flüssig geschriebenen Kapiteln skizziert der Schüler Hans-Ulrich Wehlers den vor allem im späten 19. Jahrhundert rapide fortschreitenden Wandel rassistischen Denkens. Ein konterkarierender Vergleich zur historischen Entwicklung des US-amerikanischen Rassendiskurses dient Geulen schließlich dazu, die Besonderheiten der totalitären deutschen Auslegung des Darwinschen »Kampfs ums Dasein« herauszuarbeiten.

Mit der Evolutionstheorie bekam der Rassismus in den Augen der völkischen Darwinleser plötzlich eine wissenschaftliche Begründung. Jetzt konnten Rassen nicht mehr nur als gottgegebene, heroische Genealogien halluziniert, sondern als veränderbare evolutionäre Objekte verstanden werden. »Gestalten, was da ist«, war auch die Devise eines der einflussreichsten Rassenideologen der Jahrhundertwende, Houston Stewart Chamberlain. Ihm widmet Geulen ein ausführliches Kapitel und zeigt, wie der Antisemit in seinem Monumentalwerk »Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts« (1899) auf 900 Seiten einen 18 Jahrhunderte währenden Siegeszug der »germanischen Welt« konstruiert. Mit dem stolzen Verweis auf den Sieg der Deutschen über Frankreich 1870/71 triumphiert Chamberlain: »Das ist der Erfolg von Rassenerzeugung durch Nationenbildung. Der feste nationale Verband (…) bedeutet gemeinsame Erinnerung, gemeinsame Hoffnung, gemeinsame geistige Nahrung; er festet das bestehende Blutband und treibt an, es immer enger zu schließen.«

Auch für Chamberlain war die Rolle der Germanen in der Weltgeschichte noch lange nicht abgeschlossen. Er imaginierte einen unablässigen gesellschaftlichen Kampf, der als fortlaufende Geschichte von Entdeckungen, von wirtschaftlicher Blüte, von künstlerischen und philosophischen Leistungen zur Durchsetzung und Veredelung der Nation führe. Jenseits geografischer Grenzen verstand Chamberlain die Rasse bereits als völkisches Prinzip, dessen Siegeszug zur biopolitischen Staatsraison erhoben werden konnte. Chamberlain nahm damit vorweg, was Geulen so zusammenfasst: »Da die Nation allein im biopolitischen Rassenkampf (…) existierte, stand sie im privaten Ehebett ebenso auf dem Spiel wie bei der Besiedelung der afrikanischen Steppe.«

Geulens Buch folgt Michel Foucaults Befund einer entgrenzten Biopolitik und versucht ihn mittels einer weit reichenden Untersuchung historischer Kontexte zu verifizieren. Geulen erinnert an Zeitschriften, Ausstellungen und Vereine, um die ganze Breite nationalistischer Identifikationsmuster in der deutschen Gesellschaft zu erfassen. In der erfolgreichen Dresdner Hygieneausstellung von 1911 etwa wurde ein Reinheitsbegriff popularisiert, der mehr als die bloße Verbreitung gesundheitlicher Vorsichtsmaßnahmen bezweckte. Die totalitäre Vorstellung eines »gesunden Volkskörpers« fand hier ihren Ursprung: »Ungeheure Werte an Kraft und unermessliches Kapital schlummern in jedem Volkskörper, sie zu bergen und dem Wohle der Allgemeinheit nutzbar zu machen, ist höchste sittliche Pflicht jedes Staatsbürgers«, hieß es im Ausstellungskatalog.

Selbst emanzipatorische Vereinigungen wie der Bund für Mutterschutz und Sexualreform (BMS), jene von Helene Stöcker geleitete Gründungsorganisation der deutschen Frauenbewegung, wurde von der rassenhygienischen Ideologie des Nationalismus erfasst. Der BMS war seiner Zeit weit voraus und propagierte die Gleichberechtigung der Frauen in einer offensiven Weise, wie sie erst in den späten sechziger Jahren von der Frauenbewegung wieder aufgegriffen werden konnte. Nicht übersehen werden darf jedoch laut Geulen die eigenartige Verbindung, die auch »der frühe Feminismus mit dem Nationalismus und dem rassentheoretischen Diskurs einging«.

Geulens Studie überzeugt weniger durch ihren historisierenden Ansatz, als durch die Fülle ihrer Dokumentation. Im Rückblick ist es erschreckend zu sehen, wie homogen die deutsche Gesellschaft nach der Reichsgründung von 1871 an einem radikalen nationalistischen Projekt arbeitete, das schließlich in zwei vernichtende Weltkriege führte. Geulens Buch ruft zudem in Erinnerung, dass diese verhängnisvolle Geschichte tatsächlich noch lange nicht zu Ende ist. So bemerkt der Autor in seinem ausblickenden Nachwort, dass die willkürliche Definition abstrakter biopolitischer Feindbilder im Zeitalter des weltweiten Terrors wieder in greifbare Nähe gerückt sei: »Der Raum für politische Verhandlung, das Politische selber, wird ausgefüllt von Szenarien absoluter Lebensbedrohung.« Wohin dies führt, ist in seinem Buch nachzulesen.

Christian Geulen: Wahlverwandte. Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert. Hamburger Edition, Hamburg 2004, 411 S., 35 Euro.