Erinnerung an die Kolonialzeit

Die Folterbilder aus dem Irak schockierten Großbritannien, weil sie brutal waren. Und weil sie gefälscht wurden. Der Skandal entkräftet nicht die Anschuldigungen gegen die britischen Soldaten. von matthias becker, london

Diese Bilder sind definitiv nicht im Irak aufgenommen!« Auf der Pressekonferenz am vergangenen Donnerstag konnte David Ingram, Staatsminister im britischen Verteidigungsministerium, seine Befriedigung nicht verbergen. Die Tageszeitung Daily Mirror hatte Anfang Mai auf ihrer Titelseite Fotos veröffentlicht, die angeblich Soldaten des königlichen Lancashire-Regiments zeigen, die irakische Gefangene misshandeln.

Damit saß der Mirror offensichtlich einem Betrug auf, denn Details in den Fotos legen nahe, dass die Bilder nicht im Irak aufgenommen, sondern in Großbritannien nachgestellt wurden. Ein auf den Fotos zu sehender Lkw soll laut Militärexperten Großbritannien nie verlassen haben. Einige Tausend Pfund zahlte die Zeitung für die Aufnahmen, wahrscheinlich der Anreiz für die Fälschung einiger Reservisten. Am vergangenen Freitag entschuldigte sich der Mirror bei allen Lesern: »Wir sind reingelegt worden.« Der verantwortliche Chefredakteur Piers Morgan gab am selben Tag seinen Posten auf. Solche Vorkommnisse sind in der Presselandschaft Großbritanniens nicht unüblich. Die hiesigen Boulevardzeitungen stehen in einem scharfen Konkurrenzkampf, und mit den skandalösen Bildern wollte der Mirror, die zweitgrößte Boulevardzeitung und auch die zweitgrößte Zeitung in England überhaupt (mit einer Auflage von etwa zwei Millionen), seinen Hauptkonkurrenten, die nationalistische Sun, ausstechen.

Das ging schief, und die britische Regierung konnte einen Teilerfolg im Kampf um ihre Glaubwürdigkeit verbuchen. Aber eben nur einen Teilerfolg: Morgan beharrte bei seiner letzten öffentlichen Äußerung darauf, dass die Berichte über Folter als Verhörmethode durchaus noch nicht entkräftet seien, auch wenn die Bilder falsch sein sollten. Die militärische Untersuchung geht weiter.

Im taktischen Ablenkungsmanöver lenkte Blairs Regierung die öffentliche Aufmerksamkeit auf einen Nebenkriegsschauplatz, aber langfristig wird das der Regierung nicht nützen. Die Besatzung des Iraks scheint schlecht zu laufen; der Premierminister, der vor den im kommenden Juni anstehenden Europa- und Kommunalwahlen keine Fehler eingestehen will, erscheint als uneinsichtig. Aller Voraussicht nach werden die Wahlen für die Regierung zur Schlappe. Von New Labour enttäuschte Wähler werden die Gelegenheit nutzen, sich von der ungeliebten Regierung ganz abzuwenden. Eine sehr niedrige Wahlbeteiligung wird vorausgesagt, außerdem tritt ein trotzkistisches Wahlbündnis unter dem Namen »Respect« an, das Labour einige Prozent in der Stammwählerschaft kosten könnte.

In einem Interview bekannte Tony Blair seine Frustration darüber, dass der Irak die öffentliche Debatte bestimmt, statt der niedrigen Arbeitslosenzahlen und des Wirtschaftswachstums in Großbritannien. Auch wenn die Wirtschaft bei der nächsten Parlamentswahl den Ausschlag geben wird, leidet das Ansehen der Regierung zunehmend unter ihrer Außenpolitik. Sowohl amerikanische als auch britische Diplomaten haben vor kurzem eindringlich vor den Konsequenzen der bisherigen Politik gewarnt. Ähnlich der deutschen CDU gehen sogar die Konservativen vorsichtig auf Abstand zum augenblicklichen Besatzungsregiment. Ein Kommentator der Times – immer noch ein gutes Indiz dafür, was die herrschende Klasse in England denkt – fragte besorgt, ob ein bedingungsloser Rückzug tatsächlich chaotischer als die jetzige Situation sein könne.

Ernsthaft ist das natürlich keine Alternative – oder eine erschreckende: nach Afghanistan 1988/89 ein weiterer Sieg der Islamisten, die zweite »Weltmacht« vom Furor der Gläubigen besiegt? Der Juniorpartner der USA wie diese gedemütigt und zum Rückzug gezwungen? Auch Briten, die sich enger an die EU als an die USA anlehnen möchten, können das nicht wollen. Besonders in Blairs eigener Partei wird die Forderung erhoben, die tatsächlichen Vorteile der besonderen Beziehung zu den USA zu prüfen. Blair antwortete, dass sich diese nicht einfach zusammenzählen ließen, und rief aus: »Ich werde weiterhin Schulter an Schulter mit Bush stehen!«

Und mit diesem untergehen? Gleich mehrere Meinungsumfragen zeigen, dass zum ersten Mal auch Blairs persönliche Beliebtheit wegen der Debatte um die Folterungen sinkt. Das macht einen Rücktritt nach den Wahlen im Juni wahrscheinlicher. Wenn Labour bei den Wahlen im Stimmen verlieren wird, kommt es mit Sicherheit zu einem »personellen Neuanfang«. Der Finanzminister Gordon Brown, Blairs langjähriger Konkurrent, versucht bereits, sich als Nachfolger ins Gespräch zu bringen.

Wie reagiert die britische Friedensbewegung? Das Bündnis »Stoppt den Krieg!« konnte im Winter 2002/2003 Massendemonstrationen gegen den geplanten Krieg mit zwei Millionen Teilnehmern organisieren. Als aber die Kampfhandlungen begannen, verlor die Friedensbewegung an Dynamik. Nun standen die eigenen Soldaten im Kampf, und jede öffentliche Kritik wurde als unpatriotisch gebrandmarkt. Die etablierten Teile der Bewegung (besonders die liberaldemokratische Partei) scheuten diesen Vorwurf, mit dem die geifernde Massenpresse sie natürlich dennoch verfolgte. Das an der Heimatfront vielfach verwendete Argument, nun ginge es erst einmal darum, den Krieg zu gewinnen, danach werde man weiter sehen, brachte die öffentliche Kritik zum Verstummen. Der Versuch, den Schwung der Bewegung – und ihre Massen – in eine Kampagne gegen die Besatzung des Iraks umzuleiten, scheiterte letztendlich. Nun will sie sich wieder formieren und nächste Woche eine landesweite »Notdemonstration« unter dem Motto »Stoppt die Folter!« veranstalten.

Viele Briten sind stolz auf »die beste Armee der Welt« und deren angebliches Fingerspitzengefühl im Umgang mit Aufständischen. Dass viele Iraker das offenbar anders sehen, verstört, und das britische Selbstbild gerät ins Wanken. Kritik an der Armee ist die Grenze, die auch liberale Kritiker nicht überschreiten. Aber auch hier sind Linke gewohnt, eine Minderheitenposition zu vertreten. Ihnen bleibt die Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit ihres Heimatlandes nicht erspart. John Pilger, der bekannteste Berichterstatter aus dem Nahen Osten, schlug anlässlich der Folterbilder den Bogen zur aktuellen Besatzung des Iraks und erinnerte seine Landsleute an die an Gräueltaten nicht arme Geschichte der britischen Armee, beispielsweise die Niederschlagung des Mau-Mau-Aufstands im Kenia in den fünfziger Jahren oder die Behandlung von nordirischen Gefangenen in den siebziger und achtziger Jahren.

In Äußerungen wie der des stellvertretenden US-Verteidigungsministers Paul Wolfowitz, der kürzlich von Terroristen als »Schlangen« sprach und von »Sümpfen« in den »unzivilisierten Teilen der Welt«, die ausgetrocknet werden müssten, erkennt die antiimperialistische Linke Großbritanniens die Vergangenheit wieder und kennzeichnet die Haltung als das, was sie ist: rassistisch. Die Rhetorik der Zivilisationsbringer klingt Briten nur zu vertraut, sie erinnert an die kolonialistische Rhetorik vergangener Zeiten. Angesichts der systematischen Erniedrigung irakischer Gefangener ist die Menschenrechtsrhetorik Blairs und seiner Untergebenen nur noch höhnisch.