Ein Schritt zurück, zwei vor

Auch in Frankreich geht es bei Sozial- und Gesundheitsreformen drunter und drüber. Die prekär Beschäftigten allerdings wissen, was sie wollen. von bernhard schmid, paris

Der Service im Carlton ist auch nicht mehr das, was er mal war!« schnaufte eine vornehme Dame aus den USA am Montag letzter Woche empört in die Radiomikrophone. Ihren Unmut teilte auch der Direktor des Luxushotels in Cannes: »Ich musste persönlich die Gäste bedienen! Meine Sekretärin und leitende Angestellte mussten Zimmer reinigen!« beklagte er sich im Sender France Info.

Solche Beschwerlichkeit kennt man normalerweise nicht vom Filmfestival an der Côte d’Azur. Während der Dauer der Veranstaltung verdoppelt das Carlton jedes Jahr sein Personal durch prekär Beschäftigte. Doch sie hatten in diesem Jahr genug von extremer Arbeitshetze und schlechter Bezahlung. Fünf Prozent Lohnerhöhung forderten sie, und 200 Euro Prämie für die Mehrarbeit während der Festivaltage sowie 200 Euro am Jahresende. Am Montag letzter Woche griff ihr Streik auch auf weitere Hotels über, wie das Majestic und das Gray d‘Albion. Landesweit solidarisierten sich sogar die Sozialdemokraten mit dem Ausstand. Dieser wurde am letzten Mittwoch ausgesetzt, gegen das Versprechen der Bezahlung aller Streiktage und die Aufnahme von Verhandlungen.

Der Streik kam zur rechten Zeit, da die Aufmerksamkeit der Medien ohnehin wegen der Proteste der intermittents du spectacle, der Kulturschaffenden mit prekären Existenzbedingungen, auf das, was neben den Kulissen passierte, gerichtet war. Umso mehr, als auch mehrere Journalisten bei einem Knüppeleinsatz der Polizei erheblich verletzt wurden.

Am vorletzten Samstag demonstrierten zunächst über 2 000 Personen in Cannes. Zu den Kulturprekären gesellten sich Prominente wie der linke Bauerngewerkschafter José Bové und Michael Moore. Im Anschluss besetzten gut 100 intermittents sowie Angehörige der Arbeitslosenorganisation AC das Cinéma Star, das während der Dauer des Festivals als Filmbörse fungiert. Bei einer brutalen polizeilichen Räumung wurden mehrere Beteiligte verletzt, von denen fünf im Krankenhaus behandelt werden mussten.

Am selben Abend versammelte sich eine größere Anzahl von Unterstützern vor der Polizeiwache, um die Freilassung von Festgenommenen zu fordern. Dabei verletzten übereifrige Polizisten den bei der Arbeit befindlichen Kameramann des öffentlichen Fernsehkanals France 3, Gwenaël Rihet, der ebenfalls ins Krankenhaus musste. Noch zwei weitere Journalisten, die für die Nachrichtenagentur AFP und den Kabelkanal LCI tätig sind, bekamen einiges ab.

Da die Prügelbilder in den Medien einen ziemlich katastrophalen Eindruck hinterließen, wurde der neue Kulturminister Renaud Donnedieu de Vabre von der Regierung an die Öffentlichkeitsfront geschickt. Am Montag letzter Woche machte er eine bedeutende Ankündigung: Bestimmte Folgen des »Reformprotokolls«, das im Juni 2003 von einem Teil der so genannten Sozialpartner ausgehandelt und im Anschluss per Verordnung der Regierung für rechtsverbindlich erklärt wurde, sollen besser abgefedert werden. Infolge der »Reform« wurden die Bedingungen, unter denen die intermittents während ihrer auftraglosen Zeit einen Anspruch auf Überbrückungsgelder aus der Arbeitslosenkasse haben, drastisch verschärft. Im laufenden Jahr waren bisher 18 000 von insgesamt rund 100 000 Betroffenen akut vom Verlust ihrer Existenzgrundlage bedroht.

Donnedieu de Vabre versuchte sich mit einer Pirouette aus der Affäre zu ziehen: Zwar werde das »Protokoll« nicht abgeschafft, was eine schwere symbolische Niederlage für die Regierung und den Arbeitgeberverband Medef sowie die sozialliberale Gewerkschaft CFDT, die es von Anfang an unterstützte, bedeutet hätte. Aber ein »Sonderfonds«, der zunächst vom Staat mit 20 Millionen Euro ausgestattet werden soll, wird dem Minister zufolge die »in Not geratenen« Kulturschaffenden entschädigen. Dafür wären allerdings nach Auffassung der CGT Kultur, die sich grundsätzlich mit der Ankündigung des Ministers zufrieden zeigte, 250 Millionen Euro jährlich erforderlich.

Bisher verlangt der Minister lediglich freiwillige Zuzahlungen durch jene Arbeitgeber, die viele intermittents beschäftigen, wie Theaterbetreiber oder Kommunen. Nach den Plänen, die vorletzte Woche aus dem Kulturministerium drangen, dürfte eine Neudefinition des intermittent-Status in näherer Zukunft aber eher zu Lasten der Beschäftigten gehen. Ganze Kategorien, wie etwa Kameraleute und Bühnentechniker, sollen aus der Gruppe der anspruchsberechtigten Kulturschaffenden herausgenommen und dem wesentlich ungünstigeren Zeitarbeiterstatus unterstellt werden.

Geregelt ist deswegen noch nichts, und die Protestierenden zeigen sich misstrauisch. Die Selbstorganisationen der intermittents reagieren damit, dass ein Teil von ihnen auf eine allgemeine Solidarität aller »Prekären« oder Erwerbslosen setzt und das Problem ihrer sozialen Gruppe nicht auf ein »internes Problem der Kulturwelt« beschränkt sehen will. Darum gibt es allerdings kontroverse Debatten. Einige Vertreter der Pariser »Coordination des intermittents et précaires« hatten bereits am 1. und 2. Mai an einem europaweiten Aktionswochenende der Prekären-Initiativen in Mailand unter dem Motto »Euro May Day« teilgenommen. In Cannes besetzten sie am letzten Mittwoch mit Erwerbsloseninitiativen das Gebäude der Arbeitslosenkasse.

Während die Regierung in den letzten Wochen bei den intermittents und auch bei den Arbeitslosen zu einigen Zugeständnissen gezwungen war (Jungle World, 21/04), gehen unterdessen die regressiven »Sozialreformen« weiter. Als nächstes größeres Paket steht in den kommenden Wochen die seit längerem erwartete »Gesundheitsreform« ins Haus.

Noch ist deren genauer Inhalt, der in allen Details vermutlich erst nach den Europawahlen Mitte Juni enthüllt wird, nicht bekannt. Erste Maßnahmen hat der konservativ-liberale Gesundheitsminister Philippe Douste-Blazy, den einige Medien gern »Douste-Blabla« nennen, schon am letzten Montag angekündigt. So sollen Rentner künftig stärker zur Kasse gebeten werden. Eine neu zu begründende »Hohe Gesundheitsbehörde« soll einen »Arzneimittel-Warenkorb« definieren; was nicht hineinfällt, soll künftig von dem gesetzlichen Krankenversicherungen nicht mehr erstattet werden. Und jene Mediziner, die zu oft krankschreiben, sollen künftig vom Gesundheitsministerium direkt bestraft werden können. Lohnabhängige, die zu gerne krankfeiern, sollen ihrerseits dazu verpflichtet werden, ihre Lohnerstattung den Krankenkassen zurückzuzahlen.

Ob es zu größeren Protesten dagegen kommt, wie im vorigen Jahr gegen die »Rentenreform«, ist noch nicht klar. Die Niederlage der sozialen Bewegung vom vorigen Jahr erschwert die Mobilisierung in der Startphase. Zudem bremsen alle größeren Gewerkschaften, namentlich auch die CGT, weil sie häufig in den Aufsichtsräten von Zusatzversicherungen sitzen, die aus dem gewerkschaftlichen Genossenschaftswesen hervorgegangen sind, und dort eigene Interessen verfolgen.

Eine erste Demonstration gegen die »Gesundheitsreform« soll am kommenden Samstag stattfinden. Für denselben Nachmittag ist allerdings seit längerem eine Großdemonstration gegen den Staatsbesuch von George W. Bush in Paris angesetzt. Letztere wurde jetzt auf den frühen Abend verschoben, damit beide Demonstrationen einander keine Konkurrenz machen. Das hatten sich manche Funktionäre ursprünglich wohl erhofft.