Verändernde Perspektiven

Wie es klingt, wenn ein Improv-Gitarrist mit einem Computer hantiert? Außergewöhnlich. Der Schweizer Stephan Wittwer verwirrt jeden Hörer. von felix klopotek

Der Tag war schön und die Musik schlecht. Auf dem Wuppertaler Jazzfestival, das einen schon den ganzen Tag langweilte, versprach allein der nächtliche Auftritt des Werner Lüdi Trios Aufmunterung. Werner Lüdi, vor vier Jahren überraschend verstorben, war der große Free-Jazz-Held der Schweiz, ein Baritonsaxophonist mit beeindruckend brachialem Ton. In seinem Trio spielte auch Michael Wertmüller, der als Schlagzeuger der Freecore-Band Alboth! bestens eingeführt war. Und Stephan Wittwer, ein Gitarrist aus Zürich. Stephan Wittwer? Nie gehört.

Es war der Sommer 1995. Musikalisch keine uninteressante Zeit: Grunge war definitiv tot, Postrock noch nicht etabliert, die fein ziselierten Techno-Varianten sollten erst zwei, drei Jahre später für Verwirrung sorgen. Neil Young hatte gerade seine Zusammenarbeit mit Pearl Jam veröffentlicht und bewiesen, dass, wenn gar nichts mehr geht, es die alten Säcke sind, auf die noch Verlass ist. Stephan Wittwer war damals 42.

Die Lüdi-Truppe spielte fantastisch. Es war, als ob die klassischen Rock-Parameter – Energie, Dynamik, Monotonie – aus ihrem angestammten Kontext herausgelöst wurden und rein, pur, unverkürzt zum Ausdruck kamen. Lüdi und Wertmüller waren für die Monotonie zuständig – hoch verdichtetes Dauergetrommel und permanentes Gegrummel aus dem Saxophon –, Wittwer für alles andere. Er spielte eine irre Synthese aus Kontrolle und Kontrollverlust, oft kurz vor der definitiven Schmerzgrenze, dann aber wieder völlig asynchron zum übrigen Geschehen: mitten in einer Passage, in der Lüdi und Wertmüller high energy spielten, drehte Wittwer seinem Instrument den Saft ab, katapultierte sich abrupt aus der kollektiven Improvisation raus, ohne aber aufzuhören, wie wild auf die unverstärkte Gitarre einzuhämmern. Sekunden später dann kam er mit allem Lärm der Welt im Rücken zurück. Man muss sich sein Erscheinungsbild so vorstellen: kariertes Hemd, Stoffhose, Sandalen, im Hintergrund zwei fette Marshall-Boxen.

Wittwer sagt: »Ich war ziemlich fasziniert von Slayer damals. Ich habe von Slayer ein Live-Video aus den frühen achtziger Jahren, wo sie eine erstaunliche Mischung aus Präzision und Chaos veranstalten. Das erinnerte mich durchaus an Free Jazz, leidenschaftliche, expressionistische Musik aus den Sechzigern. Slayer waren zum Teil so schnell, dass das Metrum, der durchgehende Beat nicht mehr erkennbar ist, was einen – mit Fantasie – an die großen afroamerikanischen Drummer der Sechziger erinnern mag, die das bewusst vollzogen haben – das ›free‹ in Free Jazz.«

Neil Young hat mal eine ganze Platte produziert, die nur aus diesen Momenten des Spurenverlustes, des chaotischen Anfangens und unkontrollierten Beendens bestand: »Arc/Weld«.

Stephan Wittwer hat nun seinerseits gegenüber dieser Darstellung von Distanz eine Distanz eingenommen. Schließlich hat er keine Rockvergangenheit, sondern eine lupenreine Sozialisation als Hardcore-Improvisator: Seit Anfang der siebziger Jahre macht er Improv-Platten, tummelt sich im Umfeld der Berliner Free Music Production, arbeitet eng mit dem Schweizer Künstler-Duo Fischli/Weiss zusammen. In den achtziger Jahren kommen eine Menge Produzentenjobs hinzu, u.a. für Gabi Delgado von DAF. Wittwer verfasst immer mehr Filmmusiken, Free Jazz und Improv-Gefrickel treten zunehmend in den Hintergrund. Stattdessen gründet er die Rockband Sludge 5-0, die trotz zahlreicher Angebote und Aufnahmen keine Platte veröffentlicht. Auch von dem Lüdi-Trio existieren veröffentlichungsreife Aufnahmen, die aber nie auf CD gepresst wurden.

Den vergleichsweise wenigen Aufnahmen, die es von Wittwer gibt, merkt man die Auseinandersetzung mit der Distanz an. Die vor vier Jahren veröffentlichte Duo-Aufnahme mit Michael Wertmüller klingt nur oberflächlich wie die frei improvisierte Variante eines Melvins-Albums. Sie ist für eine Metal-Produktion viel zu luftig produziert, klingt kaum komprimiert. Anstatt Metallriffs zu spielen, zitiert Wittwer zu dem unablässig donnernden Schlagzeug Wertmüllers lieber Surfgitarren.

Diese Zeiten sind nun jedoch vorbei. »Heutzutage interessiere ich mich kaum noch für Rock und Popmusik«, räumt Wittwer ein. In den letzten Jahren hat er sich intensiv mit Computermusik auseinandergesetzt und sich die Programmiersprache SuperCollider erarbeitet. »SuperCollider macht einen – mittlerweile erschwinglichen – Computer zum umfangreichsten elektronischen Musikinstrument. Die Trennungen von Hardware in Synthesizer, Sampler, Effektgerät, Sequencer etc. sind völlig aufgehoben. Der Prozess des Komponierens ist in einer Weise mit der Klangerzeugung verknüpft, wie das früher undenkbar war.«

Einige Ergebnisse dieses Prozesses gibt es jetzt auf einer Doppel-CD: »sicht 04 etc.«, seiner dritten Soloaufnahme. Zentrales Stück ist das 51minütige »sicht 04«. Es hat seinen Ursprung in einer Filmmusik für das Fischli/ Weiss-Projekt »Sichtbare Welt«. Innerhalb dieser Arbeit gibt es u.a. eine Abfolge von Bildern, die einen großen, verschneiten, insgesamt unspektakulären Berg zeigen. Die Bilder zeigen den Gipfel des Berges aus einer jeweils unterschiedlichen, immer minimal verschobenen Perspektive. Plötzlich merkt man, dass es sich um das Matterhorn handelt. Wendet man sich als Betrachter ein paar Grad nach rechts oder links, wird die imposante Erscheinung wieder zum x-beliebigen Alpengipfel. »sicht 04« funktioniert ähnlich. Die Komposition ist transparent und klar, sehr übersichtlich – und trotzdem bleibt sie merkwürdig »begriffslos«: Sie ist kein Ambient, kein Trance, keine Neue Musik, keine Improvisation, auch keine Filmmusik mehr. Sie ist ein schier endloses Band modulierter Gitarrenklänge, die tatsächlich aber vom Computer erzeugt werden. Aufregend unspektakulär bzw. unspektakulär aufregend.

»Der große Vorteil dieses Programmes ist, dass sein ursprünglicher Autor James McCartney keine Entscheidungen für den Anwendungsprogrammierer trifft – es also keine Annahmen gab, was mit der Software geschehen soll. Er stellt eine immense Fülle von Möglichkeiten zur Verfügung, die die ganze Geschichte der elektronischen Musik umfassen. Der Preis dieser Freiheit ist ziemlich hoch, wenn man das Programmieren nicht gelernt hat und mathematisch lückenhaft gebildet ist, wie ich«, sagt Wittwer über sein Arbeitsprinzip.

Einer der beeindruckenden Effekte von »sicht 04« ist, dass man zu keinem Zeitpunkt absehen kann, wie sich das Stück entwickeln wird, aber dennoch jeder Schritt logisch erscheint. Eine irritierende Dynamik, die daraus resultiert, dass Veränderung und Stillstand gleichzeitig passieren. Man höre sich das Stück an, ziehe an einer beliebigen Stelle den Lautstärkeregler herunter und nach einer beliebigen Zeit wieder hoch. Man erkennt das Stück kaum wieder – eine Veränderung, die einem kaum aufgefallen wäre, hätte man es kontinuierlich durchgehört. Stephan Wittwer macht die Bewegung und den Stillstand hörbar. Das ist banal? So banal wie die Bilder von Fischli/Weiss.

Stephan Wittwer: sicht 04 etc.

(Domizil/a-Musik)