Verrechnet sich Polen?

Die polnische Regierung ist hin und her gerissen zwischen EU-Treue und US-Loyalität. Und macht trotzdem weiter. von stefan link und xandi korb

Völlig unerwartet bekam Walter Jens Argumentationshilfe aus Polen. Unwissentlich einer Partei anzugehören, ist doch möglich. Diesen Nachweis lieferte dem Rhetorikprofessor aus Tübingen, der von seiner NSDAP-Mitgliedschaft nichts gewusst haben will, unlängst der kommissarisch amtierende polnische Premierminister Marek Belka. Am Tag, nachdem ihm der Sejm, das polnische Parlament, das Vertrauen mit großer Mehrheit verweigert hatte, stellte Belka zu seiner eigenen Überraschung fest, dass ihn der Demokratische Linksbund SLD noch als Mitglied führt. Der Gazeta Wyborcza sagte Belka, er habe die Zahlung der Mitgliedsbeiträge eingestellt und sei daher davon ausgegangen, dass er dem SLD nicht mehr angehöre. In der Presse gilt er schon lange als »der parteilose Premierminister«.

Belka hat die Abstimmungsniederlage im Sejm erwartet und wird ohne Mehrheit weiterregieren. Staatspräsident Aleksander Kwasniewski kam dem formalen Rücktrittsgesuch nicht nach, das der nur scheinbar parteilose Premier nach der gescheiterten Vertrauensabstimmung stellte. Es ist nun an den Fraktionen, einen neuen Kandidaten zu benennen. Nachdem es vergangene Woche weder der Opposition unter der Führung der konservativen Bürgerplattform PO noch den gespaltenen Sozialisten gelungen war, einen Kandidaten zu präsentieren, verlängerte der Parlamentspräsident die Ernennungsfrist um weitere 14 Tage. Sollten auch sie ergebnislos verstreichen, wird der Präsident verfassungsgemäß Neuwahlen ansetzen und bis dahin einen Übergangspremier bestimmen. Kwasniewski hat angekündigt, Belka erneut zu ernennen.

Marek Belka, Professor der Wirtschaftswissenschaften und ehemaliger Berater des Internationalen Währungsfonds, trat erst am 3. Mai dieses Jahres die Nachfolge von Leszek Miller an. Dessen Minderheitsregierung war zerfallen, als sich die Sozialdemokratie Polens (SDLP) als eigenständige Partei von Millers SLD abspaltete. Entschlossen, als derjenige Regierungschef in Erinnerung zu bleiben, der Polen in die EU führte, verschob Miller seinen Rücktritt auf den Tag nach dem Beitritt. Wie vorgesehen übernahm danach Belka die Regierungsgeschäfte. Belka hatte in der Vergangenheit bereits zwei SLD-Regierungen als Finanzminister und Vizepremier angehört, wobei er sich politisch zunehmend von dem Bund aus Postkommunisten und Sozialisten entfernte und zuletzt – vermeintlich – aus der Partei austrat. Unmittelbar vor seiner Einsetzung war er als polnischer Delegierter in der US-amerikanischen Besatzungsbehörde CPA im Irak tätig.

Die Irakpolitik Warschaus will der neue Premier fortsetzen. Das polnische Kontingent von 2 500 Soldaten, das in der Besatzungszone zwischen Bagdad und Basra stationiert ist, werde bis 2005 dort bleiben, sagte Belka. »Wir haben noch nie Verbündete im Stich gelassen«, bekundete Außenminister Wlodomierz Cimoszewicz die Loyalität zu Washington auch nach dem Bekanntwerden der Folterbilder. Die polnischen Medien hatten bis dahin das Engagement im Irak weitgehend wohlwollend kommentiert. Noch in den Tagen, als die ersten Bilder folternder US-Soldaten in den Redaktionen eintrafen, hatte Adam Michnik, Chefredakteur der führenden Tageszeitung Gazeta Wyborcza, seine Haltung zum Vorgehen der Bush-Administration im Irak wie folgt dargelegt: »Eine schlechte Regierung hat mit schlechten Argumenten eine sehr gute Intervention gemacht.«

Inzwischen mehren sich kritische Stimmen. Viele Kommentatoren weisen darauf hin, dass Washington die polnische Loyalität zuletzt arg strapaziert habe und mit Zugeständnissen geize. Als Kwasniewski etwa im Februar in Washington darauf drängte, die Visumspflicht für Polen in den USA aufzuheben, bot Bush ein fadenscheiniges Entgegenkommen an. Die Prüfung der Visa-Anträge werde in Zukunft auf polnischem Boden stattfinden und nicht wie bisher erst bei der Einreise. Auch die erhoffte Beteiligung polnischer Unternehmen an Aufträgen im Irak blieb weitgehend aus. Bei der Ausschreibung, das polnische Irak-Kontingent mit Waffen zu versorgen, bekam vergangene Woche ein US-amerikanischer Hersteller den Zuschlag der Besatzungsbehörde. Der staatseigene polnische Waffenproduzent Bumar scheiterte damit bereits zum zweiten Mal.

Mit der starken Anlehnung an den in Kerneuropa unbeliebten Partner suchen polnische Regierungen seit dem Nato-Beitritt 1999 ihre innereuropäische Position zu stärken. »Wir geben uns Mühe, unsere Außenpolitik auf zwei gleichwertige Pfeiler zu stellen: die Nato und die EU«, charakterisiert Kwasniewski dieses Vorgehen.

Aber auch der europäische Pfeiler hat Risse. Am 17. Juni beraten in Brüssel die 25 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union über den Verfassungsentwurf, der im Dezember mit dem Veto Spaniens und Polens durchgefallen war. Während Spanien nach dem Machtwechsel in Madrid in der Streitfrage der künftigen europäischen Mehrheitsverhältnisse nachgab, beharrt Polen auf einer Korrektur des Entwurfs. Dieser schlägt eine Variante der doppelten Mehrheit vor. Demnach bedarf ein Beschluss im europäischen Ministerrat einer Mehrheit von 50 Prozent der Länder, die gleichzeitig 60 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Das Prinzip der doppelten Mehrheit bestreitet auch Polen nicht. Man ringt jedoch um Zahlen. Dabei sei ein Kompromiss eher fern, sagte Außenminister Wlodzimierz Cimoszewicz nach Abschluss von Sondierungsgesprächen vergangene Woche.

Polens Renitenz in der Mehrheitenfrage hat inzwischen Eigendynamik entwickelt. Ein Einlenken würden viele als Niederlage empfinden. Die Vermutung, dass man sich beim Brüsseler Gipfel ein vor allem symbolisches Gefecht liefern dürfte, wird durch folgenden Umstand bestärkt: Die von Polen als Kompromiss ins Spiel gebrachte 55/55-Mehrheit würde es noch stärker benachteiligen als die 50/60-Regelung. Zu diesem Ergebnis kam im April eine Konferenz von Mathematikern, die sich mit den möglichen Mehrheitsbildungen beschäftigte. Außerdem tritt die Regelung, die jetzt debattiert wird, erst 2009 in Kraft. Bis dahin gilt noch der Abstimmungsmodus von Nizza, der die Bevölkerungsanteile nicht berücksichtigt und Polen begünstigt. Für diesen Modus hatte Ex-Premier Leszek Miller einst die Formel aufgegriffen: »Nizza oder Tod!«

In Warschau bringt man der deutschen Führungsposition in Europa Argwohn entgegen. Die beleidigte Einlassung Gerhard Schröders bei seinem Kurzbesuch in Warschau vergangene Woche, Polen müsse die Unternehmensssteuern erhöhen, weil andernfalls die deutsche Seite dafür sorgen werde, dass das Land weniger Beihilfen aus den EU-Strukturfonds erhalte, wertete die Presse fast einhellig als Erpressung. Er sei »beeindruckt« gewesen von dieser »egoistischsten« aller Reden, die je ein deutscher Politiker in Warschau gehalten habe, sagte Jan Rokita, Vorsitzender der PO.

Und Marek Belka? Wird es ihm gelingen, aus dem SLD auszutreten, bevor er als Premierminister abdanken muss? Manche Beobachter sind zuversichtlich. Der Sejm wird sich noch diese Woche auf Belka verständigen, um baldige Neuwahlen zu vermeiden. Traut man den aktuellen Umfragen, müsste ein großer Anteil der jetzigen Abgeordneten den Sejm verlassen. Das Salär der polnischen Parlamentarier ist hoch, ihr Leumund jedoch zweifelhaft. Man traut ihnen zu, aus reinem Eigennutz einen Premier zu unterstützen, den sie nicht wollen. Belka dürfte dann bis 2005 regieren. Parteilos, versteht sich.