Einer von uns

Horst Köhler wird der beste Bundespräsident seit Johannes Rau. von thomas blum

Bevor er Bundespräsident wurde, hat Horst Köhler sich schon ein bisschen gefreut und gleich die Verfassung gelesen, um nachzugucken, was er dann so alles machen darf. Doch nach der Lektüre konnte er seine Enttäuschung nicht ganz verhehlen: »Mir ist bewusst, dass der Bundespräsident keine operative Macht hat.« Zugegeben, das kann auf lange Sicht ein wenig langweilig werden, doch muss er sich deshalb nicht gleich die gute Laune verderben lassen. Also frisch ans Werk: »Aber der Bundespräsident muss und braucht kein Neutrum zu sein.« Stattdessen könnte oder sollte er »die Reformeinsicht der Bürger fördern«, »konzeptionelle Führung zeigen« und »unangenehme Wahrheiten aussprechen«, indem er unentwegt redet.

Und wie sollte er reden? »In der Verfassung steht aber nicht, dass der Bundespräsident so reden soll, dass der Bürger ihn nicht versteht.« Deshalb hat der neue Repräsentant der Deutschland AG sich fest vorgenommen, so zu reden, dass der Bürger ihn versteht. Und je länger man ihm zuhört, desto besser versteht man ihn.

Der künftigen Kanzlerin rät er, »sie sollte Maggie Thatcher nicht kopieren, aber bei der Tiefe und der Breite der Reformpolitik durchaus an ihr Maß nehmen« und also nicht bloß dort weitermachen, wo Gerhard Schröder demnächst aufhören wird, sondern, was die Tiefe und Breite angeht, beherzt zu einem größeren Kaliber greifen. Denn den »Reformprozess« nimmt er als »quälend langsam« wahr. Den Politikern empfiehlt er, dafür zu sorgen, »dass Sozialhilfe nicht zu einer Art solider Grundsicherung für Menschen wird, die sich nicht dem offiziellen Arbeitsprozess stellen wollen«. Der Bevölkerung tut er seine Überzeugung kund, »dass die meisten Deutschen wissen, wie notwendig es ist, manchmal mehr zu arbeiten, wenn die Umstände es verlangen«. Er selbst kennt das »aus dem privaten Bereich. Früher habe ich öfter die Wohnung geweißt und tapeziert. Da habe ich auch nicht gesagt, ich höre um 18 Uhr auf.«

Herr Köhler macht also präzise die Vorschläge, die wir von einem erwartet haben, der in seinem früheren Leben Direktor des IWF, Finanzstaatssekretär und Chefunterhändler im Kabinett Kohl war.

Nun ist es beim Bundespräsidenten so, dass es »nicht nur darauf ankommt, was er sagt, sondern auch wie er es sagt«. Er muss unbedingt darauf achten, dass die unangenehmen Wahrheiten, die es auszusprechen gilt, so dick in den Sparkassenfilialleiterjargon eines neoliberalen Finanztechnokraten oder in melodramatische Schaumsprache eingepackt werden, dass sie darunter kaum mehr zu erahnen sind. Und das beherrscht Herr Köhler fabelhaft.

Einen sozial abgesicherten Arbeitsplatz nennt er deswegen einen »überregulierten Arbeitsplatz« und einen ungesicherten Tagelöhnerjob nennt er einen »neuen modernen Arbeitsplatz«. Täglich müssen haufenweise »Tabus« gebrochen werden. Die Vorschläge zum Sozialabbau, mit welchen die Parteien sich gegenseitig übertreffen, bezeichnet Köhler als »das notwendige und sehr ermutigende Ringen um den richtigen Weg«. Die Agenda 2010 sei »ein mutiger Schritt, aber nur ein erster. Jetzt kommen weitergehende Vorschläge – von der Union, von der FDP. Ich bin optimistisch, weil ein Gärungsprozess für Reformen entsteht.« Dass Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose den Gürtel noch ein bisschen enger schnallen müssen und sich selbst was ausdenken sollen, wenn sie Hunger haben, umschreibt er so: »Wir müssen eine neue Balance finden zwischen dem, was der Einzelne mit seiner Freiheit kreativ leisten kann, und dem, was der Staat leisten kann.«

Deshalb muss man bereits den Schulkindern ihre Fibel wegnehmen und ihnen stattdessen das Grundsatzprogramm der FDP zu lesen geben, um ihnen beizeiten einzubläuen, dass einem im Kapitalismus nicht die gebratenen Tauben von allein ins Maul fliegen, sondern dass es vielmehr »einen Zusammenhang gibt zwischen Leistung und Ertrag«. Wer nicht arbeitet, soll auch nichts ausgeben, und »das Bewusstsein dafür sollte schon in den Schulen geschaffen werden«, um »die Kinder auf die Welt des Wettbewerbs vorzubereiten«. Dann werden vielleicht gute Unternehmer aus ihnen, die hernach die Arbeitskraft anderer ausbeuten, und »das sollten wir anerkennen und Gewinn nicht als Bereicherung verunglimpfen«.

Manchmal, wenn er lange genug so dahergeredet hat, fällt Horst Köhler etwas auf: »Mir fällt im Übrigen auf, dass Formulierungen, die ich gebrauche, weil sie für einen Ökonomen auf der Hand liegen, kommentiert werden mit ›der weiß nichts anderes außer Ökonomie‹.«

Oh ja, er ist ein Ökonom, und was für einer. Der Kapitalismus, weiß er, ist die beste aller Welten, ein reines Honigschlecken, nur die begriffsstutzigen Deutschen wissen nicht, wie gut sie es haben. Da braucht es einen wie Horst Köhler, um es ihnen zu erklären. »In Deutschland«, sagt er, »sieht man alles etwas negativer. Diesen pessimistischen Unterton in der Republik zu ändern, ist eine wichtige Aufgabe.« Alles ist nämlich eine Frage der Einstellung. Es wird also Zeit, dass der Optimist Köhler bald öfter mal ein Machtwort spricht: »Die Deutschen sollen ihr Land nicht schlechter sehen, als es ist. Deutschland ist ein wunderschönes Land«, in dem die Blumen blühen und die Obdachlosen und Abschiebehäftlinge langsam vor sich hin sterben.

Horst Köhler ist ein Deutscher durch und durch. »Ich liebe unser Land«, sagt er. Und er kennt auch keine Tarifparteien mehr, sondern nur noch Deutsche: »In der modernen Arbeitswelt gibt es nicht mehr den großen Gegensatz von Arbeit und Kapital.« Er ist gerne deutsch, und er will, dass sein Deutschsein von allen anderen Deutschen gespürt und gefühlt wird: »Ich will, dass die Deutschen sehen, fühlen, spüren: Ich bin einer von euch.« Er ist auf gutem Wege. Und überhaupt, wenn er schon so gut in Fahrt ist, warum soll er eigentlich nicht schon vor seinem Amtsantritt das nationalistische Vollprogramm ohne Narkose herunterbeten? »Die Deutschen sollten sich generell nicht davor scheuen, über die Frage von Patriotismus zu diskutieren, um ihren Platz in der Welt mit Selbstvertrauen zu finden. Wir haben das in der Vergangenheit etwas vernachlässigt.«

Im Grunde sollte man also von Herzen froh sein über den neuen deutschen Bundespräsidenten, der »Profil und auch mal Kante zeigen« will und scheint’s begriffen hat, was man derzeit in Deutschland wie sagen muss, wohingegen sein Vorgänger sichtlich »schon länger kaputt obenrum war« (Titanic).

Folglich sind alle überglücklich über unser neues Staatsoberhaupt. Michael Rogowski, der BDI-Präsident, Dieter Hundt, der Arbeitgeberpräsident, und auch Frau Köhler »sah man stets mit einem Lächeln im Gesicht« (stern). Trotzdem wird man nicht ganz das Gefühl los, es stimme irgendetwas nicht mit Horst Köhler, dem Mann, der so leidenschaftlich den »Bürgern auch ins Gesicht sagt, was sie nicht so gerne hören« (Bild). Bloß was?