Nationalelf und Gefühl

Nicht nur, dass Nationalismus und Fußball zusammengehören, der Fußball hilft sogar, ihn zu produzieren. von andrei s. markovits und martin krauss

Dem Sonderheft des Kicker-Sportmagazins zur Euro 2004 ist alles Wichtige beigeheftet, was gebraucht wird, damit sich Nationalismus so richtig entfalten kann. »Zeig dich als EM-Fan«, heißt es, und sechs fertige Fingerfarben – schwarz, rot, gold/gelb, blau, weiß und grün – sind mitgeliefert, die man sich ins Gesicht schmieren kann.

Eine vor zwei Jahren vorgestellte Studie der Hamburger Agentur SportFive ergab, dass im Vergleich zur Champions League Welt- und Europameisterschaften wesentlich mehr Emotionen binden. »In Deutschland geht den Fans, so mies die Leistungen auch sein mögen, die Nationalelf über alles«, fasste die Süddeutsche Zeitung das Ergebnis des deutschen Teils der Studie zusammen. »Nicht nur WM und EM, selbst normale Länderspiele (83 Prozent Interesse) übertreffen die Bundesliga knapp und die Champions League deutlich.« Ähnliche Befunde über die größere Popularität von EM und WM zeigten sich in England, Italien und Frankreich. Lediglich im fünften untersuchten Land, Spanien, ist die nationale Liga populärer als die WM. Die Champions League als der wichtigste europäische Vereinswettbewerb hingegen kann auch hier keine vergleichbaren Emotionen auslösen. In Frankreich interessiere die Champions League etwa so wie die zweite Liga.

Nationalmannschaften sind heute sogar noch wichtiger, als sie es jemals zuvor waren, auch weil sie den nationalen Emotionen viel mehr Raum lassen. Nationalismus, etwa in Österreich, der Schweiz, Polen oder den Niederlanden, bedeutet hauptsächlich, sich vom Nachbarn Deutschland abzugrenzen. In dieser »politics of difference« spielt der Sport eine zentrale Rolle. Weil die Globalisierung auf der Ebene der Produktivkräfte so erfolgreich ist, werden national und lokal kodierte Emotionen immer stärker. Dies ist ein dialektischer Vorgang.

Essen, Trinken, Mode und Musik können leicht internationalisiert werden, denn sie sprechen nicht die gleichen kollektiven Emotionen an wie ein mit Fanatics gefülltes Stadion. Das ist der Grund, warum die Bedeutung der Nationalmannschaften auch dann nicht abnimmt, wenn die Fußballkonzerne wie Real Madrid oder Manchester United an Bedeutung so sehr zunehmen, dass auch Weltklassespieler ihrem Verein zuliebe auf einen Länderspieleinsatz verzichten.

Was für den Profikicker eine ökonomisch rationale Entscheidung ist, berührt seinen Fan kaum. Die Loyalität eines Anhängers zu seinem Verein stellt in der Regel keine Alternative zur Loyalität zur Nation dar. WM und EM sind nur alle vier Jahre, damit sind sie per definitionem gewichtiger als der Klubfussball.

Außerdem spricht das Nationale auch eine politische Dimension an, die beim Klub nicht auszumachen ist. Der französische Politologe Pascal Boniface hat bei gerade unabhängig gewordenen Ländern beobachtet, dass sie zunächst in den Weltfußballverband drängen: »Als sei dies ebenso natürlich und notwendig wie der Beitritt zur Uno, als beschränke sich die Definition des Staatsbegriffs nicht auf die drei traditionellen Bestandteile Staatsgebiet, Staatsvolk und Regierung, sondern als müsse noch ein viertes, ebenso wesentliches Element, eine Fußballnationalmannschaft, hinzukommen.« Und der Historiker Arthur Heinrich hat nachgewiesen, dass die Bundesrepublik Deutschland ihre volle Souveränität vor allem durch den WM-Erfolg von 1954 erlangte. Im Nachhinein überrascht am »Wunder von Bern« eher, dass kein Kanzler, kein Bundespräsident und kein Bonner Minister im Wankdorfstadion von Bern anwesend waren.

Weder das deutsche noch das britische Kabinett haben je bei einem Spiel von Bayern München oder Manchester United ihre jeweiligen Sitzungen unterbrochen. Bei wichtigen Spielen der Nationalmannschaften machen sie das oft, meist sind auch der Kanzler, der Präsident oder zumindest der Innenminister im Stadion anwesend.

Der Fußball ist für die Konstitution des Nationalismus auch deswegen so bedeutend, weil er auf so leisen Füßen daherkommt, beinahe urwüchsig. Die Sympathie für Fußballmannschaften, auch die Nationalelf, entsteht in der Kindheit, wo ein einigermaßen politisch reflektiertes Denken über Nation, Nationalismus etc. nicht möglich ist. Außerdem kennt man die Spieler auf dem Platz ja, sie werden einem in der täglichen Berichterstattung nahe gebracht.

Mit der Fähigkeit, ein Fußballspiel zu verstehen oder zu lesen, ist es wie mit jeder anderen Sprache. Man beherrscht sie besser, nuancierter, gewandter, reicher, je früher man sie gelernt hat.

Sportkulturen und auch Sprachen sind, wie es soziologisch heißt, sehr »pfadabhängig«. Wenn man einen Pfad bereits betreten hat, ist ein Abweichen oder Dazustoßen sehr schwer.

Ein Beispiel ist die Wahrnehmung des berühmten »dritten Tores« von Wembley, des Treffers, der die Niederlage der deutschen gegen die englische Elf im WM-Finale von 1966 einleitete. Es gibt kaum einen Engländer, der glaubt, dass der Treffer von Geoff Hurst kein Tor gewesen wäre. Und es gibt umgekehrt kaum einen Deutschen, der meinte, dass der Ball drin war.

Eine unregelmäßig seit 1966 überwiegend in der linksintellektuellen Welt der Sozialwissenschaften durchgeführte – freilich unrepräsentative – Umfrage unter über 200 Männern ist unser Beleg. Und der ist überhaupt nicht von dem Umstand berührt, dass es sich bei den Befragten, zumindest nach außen hin, um Vertreter eines anationalen oder sogar antinationalen Milieus handelt.

Entsprechend schwierig ist eine Entwicklung zum Euronationalismus. Wenn es ihn geben könnte, dann nur im Wettkampf gegen die USA oder potenziell gegen einen anderen Mächtigen.

Etwas, das man wirklich als Euronationalismus bezeichnen könnte, als eine wirkliche emotionale Bindung, die mit dem Schwingen europäischer Fahnen untermalt wurde, war bislang lediglich im Golfsport zu erleben: Bei zwei Spielen Europas gegen die USA um den Ryder Cup. Etwas Ähnliches hat es nicht nur im Sport, sondern auch in anderen politischen und gesellschaftlichen Bereichen noch nicht gegeben.

Es könnte im Fußball entstehen, wenn etwa eine europäische gegen eine lateinamerikanische Auswahl anträte und es um einen wirklich sportlich wichtigen Titel ginge. Dies wird es aber nicht geben, weil es bereits die mächtige Struktur der Fußball-WM gibt. Beim Golf kommt noch hinzu, dass – auch aufgrund der sozialstrukturellen Verortung dieses Sports als Betätigung der Upper Class – es den Europäern emotional wichtig ist, gerade die USA zu besiegen.

Interessant ist vielleicht, dass das vice versa überhaupt nicht zutrifft. Das hat mit der nach innen gerichteten Struktur des Nationalismus im amerikanischen Sport zu tun. Niemand in den USA nahm es Pete Sampras oder Andre Agassi übel, dass sie nur selten um den Davis Cup im Tennis spielten. Dass John McEnroe dies immer tat, wird bis heute in den USA etwas belächelt und eben als eine der vielen persönlichen Macken des großen Mac abgetan. Dabei ist es nunmal so: Boris Becker und Steffi Graf wurden zu Ikonen in Deutschland wegen der nationalen Bindung und des nationalen Interesses. Ähnlich ist es mit Lance Armstrong in den USA oder mit Björn Borg in Schweden.

In dieser für uns traurigen Dimension gibt es überhaupt keine Ausnahmen auf der Welt. Alle ergötzen sich in nationalistischer Freude, wenn Landsleute in irgendeinem Sport irgendwo reüssieren.

Das Sonderheft des Kicker zeigt, dass man aus seinen mitgelieferten sechs fertigen Fingerfarben jede der 16 Flaggen der Teilnehmerländer dieser Europameisterschaft auf sein Gesicht malen kann. Eine andere als nationale Wahrnehmung ist bei Welt- und Europameisterschaften kaum möglich. That’s the way it is.