Den echten Marx lesen

Moishe Postone beraubt die Marxsche Theorie um die Klassen und das Proletariat. von gerhard hanloser

Langeweile ist konterrevolutionär, das wussten schon die Situationisten. Moishe Postones Werk zur Rekonstruktion des Marxismus ist genau dies: langweilig und nicht zuletzt deswegen auch ein wenig konterrevolutionär. Was die einen als kritische Methode der »immer wieder erneuerten Kreisbewegungen« (Manfred Dahlmann) bezeichnen, nennen andere schlichweg redundant. Noch dazu wäre es besser, Marx selbst zu lesen, denn Postones »authentischer Marx« ist bloß Postone selbst. Er will seinen Lesern verdeutlichen, dass jeder Bezug auf das Proletariat der Affirmation der Arbeit verhaftet bleibe, dass der traditionelle Marxismus die Selbstverwirklichung des Proletariats im Sozialismus angestrebt habe und dass es stattdessen um eine Kritik der Kategorie Arbeit selbst gehen müsse.

Das ist nicht wirklich neu und auch nicht wirklich richtig. Denn Postones traditioneller Marxismus ist ein Pappkamerad. Sein »Fron-talangriff« (Norbert Trenkle) geht mehr oder weniger ins Leere. Postone zufolge verkünde der traditionelle Marxismus einen Sozialismus der »Verwirklichung des Proletariats«. Aber hatte nicht bereits Georg Lukács, zweifelsfrei ein traditioneller Marxist, gemeint, es ginge um die Selbstkritik des Proletariats? »Das Proletariat vollendet sich erst, indem es sich aufhebt, indem es durch Zuendeführen des Klassenkampfes die klassenlose Gesellschaft zustande bringt«, schrieb Lukács.

Verwirklichen oder aufheben – ein nicht ganz unbedeutender Unterschied. Natürlich gab es in der unseligen Geschichte des Sozialismus, des Arbeiterbewegungsmarxismus und Stalinismus die Ontologisierung der Arbeit, die Verherrlichung des Proletariats und das arbeitsgeile Monstrum nahmens Realsozialismus. Postone aber kämpft gegen Windmühlen. Diesen Sozialismus mit seinem Proletenkult gibt es kaum mehr, und wo er sich gehalten hat, ist er schlichtweg lächerlich und demontiert sich selbst.

Postone schreibt ein Buch, als hätte es die Situationisten nicht gegeben, als hätte der Kampf der süditalienischen taylorisierten »Fabrikaffen«, wie sich ein schreibender Arbeiter selbst in kritischer Absicht bezeichnete, nicht stattgefunden. Ärgerlich und geschichtsvergessen ist, dass Postone das Proletariat und den Klassenkampf auch als negative und destruktive Kräfte in der Geschichte nicht erkennen mag.

Seine Kritik der Arbeit muss die Arbeiter mittreffen, weil er Arbeit und Arbeiter wie die bürgerliche und gewerkschaftliche Vulgärökonomie als identisch auffasst. Es ist auch keinen Übersetzungsfehlern, sondern der unklaren Begrifflichkeit Postones geschuldet, wenn der Standpunkt der Arbeit, der Klassenstandpunkt, die Arbeit und die konkreten Arbeiter und Arbeiterinnen identitätslogisch gleichgesetzt werden. Marx’ Kritik zielte auf diesen Irrtum, besser gesagt, auf diese interessegeleitete Ideologie der politischen Ökonomen: »Dass die Arbeit dem Kapital gegenüber als Subjekt erscheint, d.h. der Arbeiter nur in der Bestimmung der Arbeit, und diese ist nicht er selbst, müsste die Augen öffnen.«

Alles Augenöffnen hat nichts gebracht. Um zu erkennen, dass die Arbeit dem Kapital einverleibt und eine immanente Größe ist, die gleichzeitig eine Qual für die Arbeiterinnen und Arbeiter ist, braucht man nicht einmal Marx. Wer selbst malochen gehen muss oder mit der theoretischen wie praktischen Geschichte der Arbeiterklasse vertraut ist, weiß von diesem Zusammenhang und weiß auch, dass mit diesem Zusammenhang die Hoffnung auf eine fundamentale Veränderung, also die Zerstörung der kapitalistischen Gesellschaft, gegeben ist.

Postone benutzt einen nicht wirklich spektakulären Trick, um über solche Passagen hinwegzugehen: Er ignoriert sie einfach. Auch die Passagen aus dem »Kapital«, in denen Marx das Proletariat als die Klasse definiert, »deren geschichtliche Berufung die Umwälzung der kapitalistischen Produktionsweise und die schließliche Abschaffung der Klassen ist«, werden geflissentlich unter den Tisch gekehrt. Der Marx Postones ist ein klassenloser Marx, ein Marx ohne Proletariat. In Zeiten der postmodernen Textdekonstruktion mag dies durchaus möglich sein, doch Postone sieht sich wohl eher nicht als Dekonstruktivist.

Dabei wusste es Postone mal besser. Zusammen mit Helmut Reinicke stellte er Mitte der siebziger Jahre Überlegungen über »Dialektik und Proletariat« an. »Das Proletariat – als Klasse im allgemeinen – stellt eine historisch bestimmte Kategorie der Entfremdung dar und sollte nicht als Subjekt, sondern als Noch-nicht-Subjekt begriffen werden – das in dieser Form als entfremdetes Subjekt das Kapital konstituiert. Der Übergang von der Klasse an sich zur Klasse für sich heißt, dass indem das Kapital über den Haufen geworfen wird, auch die Weise der Arbeit abgeschafft wird, die dem Kapital wesentlich ist: die proletarische Arbeit. Das ist die konkrete Bedeutung der Selbstabschaffung der Klasse«, schrieben Postone und Reinicke.

Die Selbstabschaffung der Arbeiter als arbeitende Klasse: Die ganze Wahrheit des revolutionären Marxismus liegt in diesem Begriff. Warum sollte man sich durch ein Werk von 600 Seiten quälen, wenn es derselbe Autor schon mal besser wusste? Dahlmann irrt sich also ganz und gar, wenn er betont, man müsse sich »auf den Gegenstand in der gleichen Intensität einlassen«, wie Postone dies vorgegeben habe. Muss man eben nicht.

Wie konnte es zu einem solchen Erkenntnisverlust kommen? Er korrespondiert mit einem Erfahrungsverlust. Nicht nur für Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit, auch für Moishe Postone gilt, dass der jeweilige Protagonist um so schlauer, sprich rebellischer war, je weiter man in seiner Biographie zurückgeht und je mehr man sich 1968 nähert, dem bisher letzten Aufstand gegen die kapitalistische Ordnung. In den antagonistischen Bewegungen nach 1968 musste der Zusammenhang von negativem Klassenbegriff, subversivem Klassenkampf und marxistischer Kritik gar nicht lang und breit begründet werden. Es war evident, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter, für die sich die an Marx und Freud theoretisch sich bildenden Aktivistinnen und Aktivisten auch interessierten, mit ihrer Bestimmung als variablem Kapital alles andere als einverstanden waren. Man lese nur Peter Paul Zahls »Die Glücklichen«.

Postone selbst kennt diese Debatten, in seiner Frankfurter Zeit schrieb er in einer Zeitschrift, die sich Autonomie – Materialien gegen die Fabrikgesellschaft nannte. Postones Erkenntnis, dass radikale Kritik eine »Kritik der Arbeit« zu leisten habe, ist weniger seiner bienenfleißigen Marx-Lektüre geschuldet als dieser historischen Erfahrung, die er aber recht schnell, im Zuge eines Marsches durch die Marxsche Theorie als Institution, zugunsten eines identitätslogischen und strukturalistischen Seminarmarxismus verdrängen musste.

Warum kritisiert Postone eigentlich den »Pessimismus« der Kritischen Theorie? Man weiß es nicht, aber man hat das Gefühl, dass ihm der Aufschrei des frühen Horkheimer, der gegen die vollständig okkupierte Gesellschaft des »autoritären Staates« die revolutionäre Tat hochhielt, nicht passt. Doch in den dreißiger und vierziger Jahren war der Aufruf zur revolutionären Tat die einzig richtige Position. Ihm folgen allein Marinus van der Lubbe und Georg Elser.

Der »Pessimismus« der Kritischen Theorie war viel eher in den sechziger Jahren ein Problem und wurde bereits vom Frankfurter SDS-Aktivisten Hans-Jürgen Krahl einer adäquaten Kritik unterzogen. Im Gegensatz zur ressentimenthaften Kritik an Adorno der Kommune II, die dem »Großen Zampano der Wissenschaft« bereits 1967 eine Absage erteilte, weil sie nur noch den Worten Maos lauschen wollte, und im Gegensatz zu den zum Teil antisemitischen und antiintellektuellen K-Gruppen der siebziger Jahre versuchte sich Krahl an einer Reaktivierung der revolutionären Thesen der Kritischen Theorie und polemisierte in den sechziger Jahren gegen sie: »Adornos gesellschaftstheoretische Einsicht, derzufolge das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potenziell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie anzusehen sei, ließ seine progressive Furcht vor einer faschistischen Stabilisierung des restaurierten Monopolkapitalismus in regressive Angst vor den Formen praktischen Widerstands gegen diese Tendenzen des Systems umschlagen.«

Hier ist das Problem angedeutet, dass die Faschismuserfahrung bei Adorno wie bei Horkheimer, anders als bei Herbert Marcuse, in Konservatismus kippte. Postone geht erstaunlich lapidar mit der historischen Bedingtheit der Kritischen Theorie und ihrer Reflektion auf Auschwitz und den Faschismus um, er meint, den »Pessimismus« der Gruppe in überhistorischen Kategorien verorten zu können. Aber auch auf der theorie-immanenten Ebene war Hans-Jürgen Krahl schon weiter, sah er doch einen dringenden Bedarf, die Kritische Theorie zu überwinden, da sie die kapitalistische Totalität nicht in ihrer »klassenantagonistischen Dualität« begreifen könne.

Genau hiermit hat Postone auch das geringste Problem. Der Antagonismus in der Ausbeutung ist ihm ein beliebiger Widerspruch und nicht der den Kapitalismus konstituierende. Jean-Paul Sartre hatte Recht, als er den strukturalistischen Marxismus Louis Althussers als »die letzte Barriere, die das Bürgertum noch gegen Marx errichten kann«, bezeichnete. Diese Funktion hat nun Postone eingenommen. So eignet er sich eben bestens zum Alibi-Marxisten all derer, die am Anfang des 21. Jahrhunderts, einer Zeit der brutalen Restauration des Kapitalverhältnisses, nichts als wichtiger erachten, als an der »Möglichkeit einer zumindest gedanklichen Resititution des Bürgers auch unter den aktuellen Bedingungen« (Dahlmann) festzuhalten – ganz für sich allein, als Vereinzelter im stillen Kämmerlein. Sollte man wirklich abermals die »Trauer um den Tod des bürgerlichen Individuums« zelebrieren? Wäre es nicht lohnender, in Zeiten, in denen Klassenkampf und radikale Kritik der Arbeit praktisch von der Bühne verschwunden zu sein scheinen, an historische Phasen zu erinnern, in denen Klassenkampf, Revolte, Kritik des Alltagslebens und Kritik der Arbeit zusammenfielen?