Wir warn die Härdesten

Rocko Schamoni liest im Deutschen Theater. von florian scheibe

Ich habe noch nie bei einem Gewinnspiel im Radio gewonnen. Das letzte Mal, dass ich überhaupt bei einer Telefonaktion durchgekommen bin, war im Sommer 1982 bei der Münchner Abendzeitung. Da war ich elf und habe mit Helmut Kohl telefoniert. Zwei Wochen zuvor hatte ich damit begonnen, zerrissene Jeans zu tragen, Billy-Idol-Buttons an meine Jacke zu heften und mir meine Haare wild nach oben zu gelen. Die Telefonnummer hatte ich eigentlich nur so zum Spaß gewählt, aber als dann tatsächlich jemand abnahm, war ich so aufgeregt, dass ich mein Vorhaben, den künftigen Kanzler zu fragen, warum er denn immer so blöd grinsen muss, sofort fallen ließ. Stattdessen stellte ich stotternd irgendeine falsche Frage zum Nato-Doppelbeschluss, ließ mich, ohne zu murren, von Herrn Dr. Kohl schulmeisterlich verbessern und mir zu allem Überfluss auch noch ganz väterlich alles Gute für meinen weiteren Lebensweg wünschen. Klack.

Mein Leben als Punk war beendet, bevor es überhaupt begonnen hatte. Cut. 23 Jahre später. Wieder am Telefon. Tuuuut, tuuut. Tuuuuut. Klick. »Hallo hier ist Radio Eins.« – »Oh, ich bin ja durchgekommen.« – »Ja, das sind Sie.« – »Ja, äh, ich wollte fragen, ob es noch die Freikarten für die Rocko-Schamoni-Lesung gibt.« – »Ja, Deutsches Theater, Abendkasse, geht aber schon in ’ner halben Stunde los.« – »Kein Problem.«

Auf dem Weg zum Deutschen Theater merke ich, dass ich gar nicht weiß, wo es sich wirklich befindet. Ich muss an Benjamin von Stuckrad Barre denken (tatsächlich denke ich sogar »Stucki«), vor allem wegen des gleichnamigen Buchs (»Deutsches Theater«), und weil ich eigentlich immer an Stucki denken muss, wenn ich etwas nicht finde, was wahrscheinlich damit zu tun hat, dass Stucki schon ein Leben lang auf der Suche nach etwas ist, das er nicht finden kann.

Trotzdem frage ich mich, warum die Jugenderinnerungen des ehemaligen »King of Punk« Rocko Schamoni mit dem Titel »Dorfpunks« ausgerechnet im Deutschen Theater gelesen werden und nicht im SO36, auf dem Mariannenplatz oder auf den Gleisen des Bahnhof Zoo. Kurz darauf stehe ich erwartungsvoll vor dem Berliner Ensemble und bemerke, dass das Berliner Ensemble das Berliner Ensemble ist und nicht das Deutsche Theater. Ich frage einen Taxifahrer. »Wat…?« – »Äh, Deutsches Theater.« – »Ach, dat DT meinense, nächste links.« Das DT ist ein kleines, frisch gestrichenes, klassizistisches Häuschen, das aussieht wie eine gediegene Drei-Sterne-Pension in Saarbrücken und von Punk so weit entfernt ist wie ein Kurhotel von einer Bushaltestelle.

Die stuckverzierte Kasse hat bereits geschlossen, und ich werde von einer livrierten freundlichen Dame einfach so hereingelassen, was mich ärgert, weil ich doch schließlich im Radio gewonnen habe. Als ich den Saal betrete, sagt Rocko gerade: »Sie müssen Bescheid geben, wenn Sie eine Pause wollen, um eine Zigarette zu rauchen oder ein bisschen Speed zu ziehen.« Das Publikum lacht. Ich schaue mich um und frage mich, warum Rocko Menschen siezt, die im Schnitt mindestens zehn Jahre jünger sind als er selbst. Vielleicht ist es das Ambiente. Rocko sitzt in Jeans und Jackett auf einem Sperrmüllsofa, mit Sperrmülltisch und Sperrmülllampe und Bierflaschen neben sich. Aus einer der Bierflaschen schenkt er sich einen Schluck Bier in ein Glas, nimmt einen Schluck aus der Flasche und sagt dann: »Ich mag keine vollen Bierflaschen.«

Das Publikum lacht. Das Publikum ist im werbezielgruppengerechten Alter zwischen 22 und 29, und der männliche Teil erinnert mich irgendwie wiederum an Stucki, weil Stucki natürlich erstens ein schöner Dorfpunk-Name wäre und er zweitens auch genau diesen Hang zu den verschiedenen Beckham-Frisuren hat, die im Publikum durchexerziert werden. Die Mädchen hingegen tragen ihre Haare lang und offen, genau so wie Victoria oder Stuckis Ex, und eine von ihnen hat sich sogar ein schwarz-rotes Muster auf ihren Oberarm tätowieren lassen. Wenn Rocko mal gerade nicht liest, verteilt er Bierflaschen im Parkett, kämpft mit dem Mikro auf dem Ständer, lässt sein Feuerzeug auf die Bühne fallen und gibt sich überhaupt viel Mühe, aus dem Kurhotel eine richtige Bushaltestelle zu machen. Trotzdem muss ich ein wenig an Chemieunterricht denken und Schule und Uni-Vorlesungen und Bundestag und daran, dass irgendwann irgendjemand irgendwo geschrieben hat, dass in Deutschland alles irgendwie »Frontalcharakter« habe. Frontalland Deutschland. Vielleicht war es sogar Stucki, denke ich. Direkt vor mir entdecke ich jetzt immerhin jemanden, der sogar zwei Ohrringe in einem Läppchen trägt und ein Tattoo auf dem Rücken hat, weshalb er sich extra ein weißes Hemd angezogen hat, das hinten am Hals ein wenig herunterhängt.

Rocko liest gerade über seine Erfahrungen mit den Brüsten einer Klassenkameradin (»knospend«) und über seine ersten Besuche in »Meyer’s Disco« und von einem AC/DC-Konzert (» bis auf die Knochen durchgeschwitzt«). Dann ist Pause. Als ich in den Saal zurückgehe, werde ich von einem jungen Mann mit Fliege aufgefordert, mein drei Euro teures Bier draußen zu lassen, während sich neben mir ein Schweizer in eidgenössischem Singsang entrüstet: »Das gibt’s doch nicht. Da drinnen geht es um Punk, und wir dürfen nicht einmal Bier trinken.« Dafür verteilt Rocko zu Beginn der zweiten Halbzeit mal wieder einige der Biere, die neben ihm auf der Bühne stehen, und sorgt für die lustigste Situation des Abends, als er eines der Biere an einen blondgestylten Beckham-Boy mit den Worten weiterreichen lässt: »Für den zerfetzten Kotti-Punk da in der Mitte.« Ansonsten liest Rocko noch ein paar wirklich schöne Sätze für die 29jährigen (»Mit der Pubertät fing es an zu regnen – ein Regen, der bis heute nicht aufgehört hat«) und lässt ein paar lockere Schlagworte fallen (»Scheiße baun«, »Wir warn die Härdesten«, mit weichem »d«), mit denen auch die 21jährigen was anfangen können. Zwischendurch erreicht der Abend mit vielen hübschen Neologismen (»Gestaltenbeschleuniger« für Auto und »psychische MP3« für Gedächtnis) noch einmal einen kleinen, prolligen Höhepunkt, als sich Rocko über das laute Husten aus dem Publikum mit einem kultigen »Was ist das denn?!« empört. Schließlich ist Schluss, und Rocko lässt das Mikro auf den Sperrmüllsessel fallen, sagt »Hallelujah«, verbeugt sich, und alle applaudieren freundlich und trippeln dann im Gänsemarsch hinaus, um sich an der Garderobe ein Exemplar der »Dorfpunks« signieren zu lassen.

Während ich mir gerade überlege, ob in meinem Radio-Eins-Gewinn vielleicht auch ein Freiexemplar des Buchs enthalten ist, treffe ich auf eine Bekannte. Nachdem ich ihr von meinem Radio-Eins-Gewinn erzählt habe, stellt sich heraus, dass sie eine alte Freundin von Rocko ist, und sie fragt mich, ob ich nicht noch Lust hätte, mit ihr, Rocko und einigen anderen Freunden in die »Paris Bar« zu gehen. Ich denke »wow«, sage ganz locker so etwas wie »klar, warum nicht«, und mir fällt währenddessen auf, dass ich noch nie in meinem Leben in der »Paris Bar« war und noch nicht einmal genau weiß, wo sich die »Paris Bar« befindet. Und im gleichen Augenblick muss ich schon wieder an Stucki denken, weil der ja bekanntlich andauernd in der »Paris Bar« sitzt, um dort Menschen zu treffen oder zu beobachten und zu belauschen und danach über sie zu schreiben.

Ich selber kann nichts über Rocko in der »Paris Bar« schreiben, weil er am anderen Ende des Tisches sitzt und ich ihn den ganzen Abend weder sehen noch hören kann. Ebenso wenig schreiben kann ich über Helge Schneider, der sich kurz darauf hinzusetzt und den ich zwar sehen könnte, mich aber nicht traue, ihn anzuschauen, weil ich nicht unhöflich und aufdringlich erscheinen will. Nachdem ich mir die Bilder an den Wänden angesehen, zwei Cola getrunken, die Eiswürfel zerbissen, die Zitronen ausgelutscht und dem Kellner aus Versehen zwei Euro fünfzig Trinkgeld gegeben habe, bin ich schließlich aufgestanden und gegangen.

Auf dem Weg zur S-Bahn bin ich an einem CDU-Plakat zum Europawahlkampf vorbeigekommen und musste daran denken, wie Helmut Kohl wohl reagiert hätte, wenn er von einem elfjährigen Jungen am Telefon gefragt worden wäre, warum er denn immer so blöd grinsen muss. Und gleichzeitig musste ich daran denken, dass dann möglicherweise aus dem elfjährigen Jungen doch noch ein richtiger Punker geworden wäre, mit Bierflaschen-an-Häuserwänden-Zerschmeißen, Vor-Bahnhöfen-Sitzen, Beim-Tanzen-um-sich-Treten, Nazis-Prügeln und Sich-Totenköpfe-auf-den-Hals-tätowieren-Lassen, einer, dem diese ganze Welt von Stucki und seiner Ex und Beckham und dem Deutschen Theater und der »Paris Bar« einfach am Arsch vorbeigegangen wäre. Einer, der vielleicht eines Tages selber ein Buch geschrieben hätte, in dem es um Punks geht. Aber um richtige. Um Stadtpunks. Titel: »Wir war’n die Härtesten« … mit hartem »t«.

Rocko Schamoni: Dorfpunks. Rowohlt, Reinbek 2004, 11 Euro