Der ganze Fühmann

Am 8. Juli jährt sich der Todestag des Schriftstellers Franz Fühmann zum 20. Mal. Damit ist die Sperre aufgehoben, die er testamentarisch über seine Tagebücher verhängte. von tristan steinweg

Das Werk Franz Fühmanns wird wie ein großes Buffet behandelt. Alle nehmen sich nur das, was sie mögen. In der DDR wurde der 1922 geborene Schriftsteller vor allem wegen seiner streng antifaschistischen Kriegserzählungen und linientreuen Gedichte, Reportagen und Kinderbücher geschätzt. Fühmanns spätere Essayistik dagegen, seine literarischen Wandlungen, die verschlüsselte bis offene Systemkritik, werden weitgehend ignoriert. Nur folgerichtig erscheint die wachsende Beachtung in der BRD, die ihm 1977 den westdeutschen Kritikerpreis einbringt. Adolf Endler (»Der Tarzan vom Prenzlauer Berg«) spricht 1982 von Fühmanns spätem Erzählband »Saiäns-Fiktschen« als »dem Kultbuch der widerständlerisch gestimmten Intelligenz«, 22 Jahre später liest Elke Heidenreich aus Fühmanns Märchen. Nicht vergessen werden soll ein Beitrag in der rechtsextremen Jungen Freiheit, die aus Anlass des 80. Geburtstags von Fühmann jenen Teil des Gesamtwerkes empfiehlt, »wo Doktrinäres außen vor bleibt«, namentlich die Nachdichtung des Nibelungenliedes. Ansonsten sei Fühmann aber »schwer erträglich, widerlich bisweilen«.

Eine kritische Annäherung an den ganzen Fühmann ist werkimmanent am ehesten über das Buch »Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens« möglich, ein 1973 erschienenes fiktives Ungarn-Reisetagebuch, das er selbst als zentral für sein Schaffen ansieht. Von diesem Buch aus lässt sich Fühmanns gesamtes Schaffen überschauen. Ein Schriftsteller mit außergewöhnlicher Biografie legt Rechenschaft ab. Fühmann war Klosterschüler, Mitglied des Deutschen Turnvereins (Sudetendeutsche HJ), Freiwilliger im SA-Reitersturm und später Wehrmachtsfunker, nach eigenem Bekenntnis ein überzeugter Faschist. Franz Fühmann wurde 1945 nicht befreit. Auschwitz wurde befreit. Franz Fühmann wurde besiegt; sein Glück und sein Trauma.

»Eins von beiden: Entweder du warst Faschist, dann wärst du auch in Auschwitz Faschist gewesen. Oder du warst keiner, dann verantworte dich, dass du den Faschismus überhaupt unterstützt hast. Oder du warst ein Drittes, dann warst du einer jener Lauen, die der Herr aus seinem Munde speit.«

Mit dem ihm eigenen Pathos, in der Sache hart, ergeht das Urteil: schuldig bis zum letzten Tag.

Fühmanns Argumentation in der Schuldfrage hat Bestand, weil sie nicht auf dem Nachweis individueller Beteiligung an Kriegsverbrechen fußt, sondern auf der simplen Einsicht, dass die Teilnahme am verbrecherischen Krieg, egal mit welcher Art persönlicher Schuld sie auch beladen ist, selbst bereits ein Verbrechen war. Die Analyse ist in sich geschlossen und lässt keine Relativierungen zu. Der Versuch, einzelnen Personen konkrete Verbrechen nachzuweisen, nimmt sich dagegen fast schon banal aus. Die Verurteilung nach der Methode Franz Fühmann ist absolut und lässt keinen Rückzugsweg offen. Schuldig ist, wer sich dem System nicht entgegengestellt hat. Die Strafe misst sich daran. Nur der Tod scheint ausreichend Sühne zu bieten, die Erzählungen Fühmanns sind in dieser Frage grausam eindeutig. Die Helden seiner frühen Novellen, in der Regel einfache Soldaten, ohne besonderen Fanatismus, ohne monströses Verbrechensregister, zum Teil sogar über das durchschnittliche Maß hinaus das eigene Tun reflektierend, können wieder und wieder nur sterben. Gerichtet durch Partisanenkugeln, ermordet von den eigenen Kameraden, im wahnsinnigen Komplex von Schuld und der Angst vor Rache selbst Hand an sich legend.

»Du hast den, der du gewesen bist, zum Tode verurteilen müssen, sonst hättest du nicht weiterleben können«, heißt es in »Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens«. Diese Erkenntnis ist der Schlüssel sowohl zu Fühmanns früheren wie späteren Werken. Rigoros sortiert er in der Werkausgabe frühe Texte wegen mangelnder formaler und inhaltlicher Qualität aus. Die Kriegserzählungen bleiben, aus gutem Grund. Nur mit diesem Wissen im Kopf lässt sich auch sein Nibelungenlied lesen. Die Figur der Kriemhild ist bei Fühmann nicht die blutrünstige und irrationale Rächerin des Heroen, sie ist Sinnbild der ökonomisch-politisch geprägten Machtkämpfe im frühen Feudalismus. Das ist eine sehr marxistische Lesart, die so gar nicht zum völkischen Brimborium der neuen Rechten passen will.

Dieses Verständnis der alten Sage wird nicht dem Zensor als Häppchen beigegeben. Das hat Fühmann nicht nötig. Die Offenheit, mit der er Kritik am dogmatischen Kunstverständnis in der DDR übt, bringt ihn schon 1958 das erste Mal in einen ernsthaften Konflikt mit der offiziellen Politik, als er sein Parteiamt in der NDPD, dem Auffangbecken für »umgedrehte« Wehrmachtsangehörige, abgeben muss. Danach wird er zu einem der üblichen Verdächtigen, die nicht nur zu den großen Zäsuren im Wirken »der widerständlerisch gestimmten Intelligenz« (Prager Frühling, Biermanns Ausbürgerung) mit der offiziellen Meinung in Konflikt geraten. Er sucht förmlich die Konfrontation und kann es sich leisten, nicht wie andere bisweilen zu Kreuze zu kriechen, weil er durch die Tötung dessen, der er war, überhaupt erst das moralische Recht zur Kritik an bestehenden Verhältnissen erworben hat. Wie will man so jemanden auch zur ritualisierten Selbstkritik zwingen?

Die engen Grenzen des affirmativen Antifaschismus weit hinter sich lassend, betritt er auch künstlerisches Neuland. Wiederum hart fällt sein Tadel am schematischen Verständnis des »sozialistischen Realismus« aus. Mit unendlicher Energie verteidigt er neu entdeckte Talente und verpönte Größen der literarischen Vergangenheit. Nicht selten erstaunt heute die Offenheit seiner Worte in Erzählungen und Interviews, die alle in der DDR erschienen sind.

Die Öffnung des Privatarchivs zum 20. Todestag des Schriftstellers wird sicher nicht nur in Sachen Nachwuchsförderung in der DDR einige historische Lücken schließen. Es steht zu erwarten, dass das Tagebuch neben Berichten zu privaten Angelegenheiten auch weitere Aufschlüsse über Fühmanns Sichtweise auf politische Entwicklungen der DDR geben kann. In bereits veröffentlichten Briefen und Dokumenten wird deutlich, dass Fühmann sein Leben und – damit untrennbar verwoben – das Land, auf das er alle Hoffnungen gesetzt hatte, als gescheitert ansah. Man darf hoffen, dass sein großes Thema, die Verarbeitung der faschistischen Vergangenheit, um wesentliche Aspekte erweitert wird. Wie stand Fühmann am Ende seines Lebens zur Erstarrung seiner Gesellschaft, wie zu den Anklängen militaristischer Traditionen? Das Werk gibt natürlich nicht erschöpfend Auskunft, weniger wegen innerer oder äußerer Zensur, mehr aus literarischer Notwendigkeit. Wie weit die bisher unter Verschluss gehaltenen Dokumente das Bild ergänzen können, wird sich zeigen.

Eines ist Fühmann posthum immerhin zuteil geworden: eine ernst zu nehmende literarische Kritik. Mit Nachdruck hatte er sie jahrzehntelang im eigenen Land eingefordert und gegen den lobhudelnden Überschwang für genehme Kunst sowie gegen das Totschweigen der unerwünschten Kunst angeredet und geschrieben. Erst zur Jahrtausendwende fanden an der Universität Potsdam zwei Symposien zu Fühmanns Leben und Werk statt, deren Beiträge endlich den Schriftsteller ernst nahmen und ernsthaft kritisierten. So seine nicht selten befremdlich elitär anmutende Vorstellung vom autonomen Künstlerindividuum, die Geschlechterverhältnisse in den Erzählungen oder den seiner Essayistik innewohnenden Widerspruch zwischen vormodernem, fast romantischem Literaturverständnis und dessen Anwendung im Bereich eindeutig moderner Literaturströmungen. Franz Fühmanns Antworten darauf wären interessant gewesen, die vielleicht nötigen weiteren Wandlungen spannend. Es bleibt nur die Spurensuche im noch immer nicht endgültig abzuschließenden Sammelgebiet der DDR-Literatur.