Highway to Hell

Tour de France im Kino

Hätten Sie das gewusst? Radprofis rasieren sich regelmäßig die Beine, weil sich Sturzverletzungen während des Rennens dann viel besser behandeln lassen – und weil andernfalls beim täglichen Massieren Haarwurzelentzündungen drohen. Solche Sachen erzählt Rolf Aldag in Pepe Danquarts Tour-de-France-Dokumentation »Höllentour«, während wir sehen, wie er in der Badewanne steht und mit der Rasierklinge an sich zugange ist.

Aldag und sein langjähriger Hotelzimmermitbewohner Erik Zabel sind die Hauptfiguren dieses Films, den Danquart im Jahr 2003 während der 100. Tour gedreht hat. In seinem letzten Sportfilm, »Heimspiel« (2000), hatte er Fans des Ostberliner Eishockeyklubs Eisbären, ehemals Dynamo, im Fokus. Dieses Mal sind es also die Sportler. Das ist bemerkenswert, weil die natürlich ohnehin genervt sind von dem Rummel rund um das härteste Radrennen der Welt.

Zwei Jahre hat Danquart gebraucht, um die allmächtigen Veranstalter davon zu überzeugen, gleich mit drei Kamerateams drehen zu können, und um das Vertrauen des ehemaligen Teams Telekom, das nunmehr T-Mobile-Team heißt, zu gewinnen. Illusionen hat er den Fahrern nicht gemacht: »Wenn ihr Ja sagt, bin ich immer da, auch wenn es euch scheiße geht.«

Danquart, der vor zehn Jahren einen Oscar für den Kurzfilm »Schwarzfahrer« bekam, wollte »da anfangen, wo die Fernsehreportage aufhört«. Und diesen hehren Anspruch hat er erfüllt. Auf eine nie aggressive Art ist der Regisseur seinen Helden immer wieder auf die Pelle gerückt. Einmal füllt Zabels Kopf die Hälfte des Bildes aus und ein Kopfkissen mit Blumenmuster fast den Rest, ohne dass sich der Zuschauer wie ein Voyeur vorkommt.

Im Zentrum des Films stehen die Gefühle der Athleten: Wie sie leiden – der Telekom-Mann Andreas Klöden fährt mehrere Etappen unter Schmerzen, bis er merkt, dass sein Steißbein gebrochen ist –; wie sie an ihrer vermeintlichen Unzulänglichkeit verzweifeln; wie sie mit ihrer Angst umgehen. Bei einer Abfahrt, sagt Zabel, müssten die Fahrer »bereit sein, keine Angst zu haben« und »nicht zu viel zu denken«. 95 km/h sollte man da drauf haben, denn: »Wenn du wie ’ne Maus runterfährst, triffst du keine Kurve.«

Darüber hinaus ist es Danquart gelungen, die zwischen Campingurlaub und sympathischem Volksfest pendelnde Stimmung an der Strecke einzufangen, vor allem mithilfe einer ostdeutschen Kleinfamilie, die bei der Tour Urlaub macht. »Der Radsport ist der einzige Sport, der den Zuschauer adelt, weil die Stars zum Zuschauer kommen, und das auch noch umsonst«, sagt der Tour-de-France-Historiker Serge Laget. Tatsächlich gibt es Streckenabschnitte, wo die Stars nur ein paar Zentimeter entfernt sind. Das, beispielsweise, unterscheidet einen Jan Ullrich, der bei Danquart am Rande vorkommt, von den Herren Ballack oder Schumacher.

Danquarts vielleicht größte Leistung besteht darin, aus 70 Stunden Material völlig neue Bilder von der Landschaft, speziell den Bergen, komponiert zu haben. Wer glaubt, dank jahrelangem Konsum von Fernsehübertragungen die Strecke zu kennen, wird sich wundern.

Den Soundtrack zu »Höllentour« hat der Jazztrompeter Till Brönner komponiert. Was er sonst produziert, ist viel zu eingängig, aber hier findet er für die Substanz der jeweiligen Sequenzen immer genau die richtige Musikfarbe, sei es nun Funk, House, Disco, Jazz oder Blues, und die Einsätze sind stets so gut getimed wie die eines Club-DJs. Musik ist im Kino ja oft genug nur noch ein billiger Effekt, aber hier ist sie ein unverzichtbares Mittel, um die für die Tour typischen Gefühle zwischen Rausch und Melancholie zu transportieren.

rené martens

»Höllentour«, Regie: Pepe Danquart, 120 Minuten.