Körper im XS-Format

Rehabilitation einer Sexistin. Die Kunsthalle Bielefeld zeigt Arbeiten von Vanessa Beecroft. von johanna di blasi

Kleider wären schon »zu viel Information«. Sie könnten etwas über Zeit, Mode oder Gesellschaftsschicht verraten. Auch deswegen stellt die italienisch-britische »Skandalkünstlerin« Vanessa Beecroft Mädchen lieber splitternackt ins Museum. Nur spärliche Accessoires wie Strumpfhosen, Perücken und hochhackige Schuhe sind erlaubt. Auch dem Publikum ist es lieber so. Nach stundenlangem Zwangsstillstand sacken die mageren »Readymades« erschöpft zu Boden, die streng komponierten Kunstwerke aus Fleisch und Blut lösen sich auf – wie »Tropfbilder von Jackson Pollock«, findet Beecroft.

Schon als Mittzwanzigerin hat die eigenbrötlerische Künstlerin den Sprung in maßgebliche Galerien und Museen geschafft und wird bis heute gern eingeladen, wenn es ein Kunstevent zu feiern oder eine Biennale zu eröffnen gibt. Sie hat sich mit ihrer freizügigen Ästhetik, die häufig mit der Helmut Newtons verglichen wird, freilich auch Gegner eingehandelt. Als Effekthascherin, »Sexistin« und kaltblütige Ritualmeisterin ist sie dargestellt worden.

Jetzt, da die Künstlerin Mitte dreißig ist und 52 Performances hinter sich hat, rekapituliert die Kunsthalle Bielefeld in einer ersten deutschen Überblicksschau das Entblößungswerk – und bringt überraschende Facetten ans Licht. Die Ausstellung mit Fotografien, Filmen und Zeichnungen führt ins Archiv der Wahl-New-Yorkerin, wo sie, hierin ganz klassische Künstlerin, Leben konserviert. Das Fehlen des Spektakels der Live-Aufführungen – es sind in Bielefeld keine nackten Frauen zu bewundern – erlaubt einen unaufgeregten Blick auf die Entwicklung und das Konzept der in Italien in klassischen Kunstdisziplinen Ausgebildeten.

Mit der Nüchternheit einer Naturwissenschaftlerin dokumentiert und nummeriert sie ihre »Experimente«. Bei »VB 09« (VB steht für Vanessa Beecroft) in Köln musste sie ihre Nacktmodelle noch selbst auf der Straße auflesen, bei »VB 35« im Guggenheim Museum genügten bereits Weisungen übers Telefon. Bei »VB 39« benutzte Beecroft ausnahmsweise uniformierte Männer als Rohmaterial, Marines aus den USA. Die Elitesoldaten stellten sich zum Entzücken der Künstlerin binnen Sekunden von selbst wie ein »minimalistischer Block von Donald Judd« auf. So erlangte Beecroft 1999 Kontrolle über »richtiges Militär«. Stundenlang harrten die Männer stählern aus, das genaue Gegenteil der Mädchen. In ihrem Projektantrag an die Militäroberen hatte Beecroft gewieft formuliert, dass es ihr darum gehe, die Grundwerte von Mut und Ehre und den Auftrag der Navy in einer neuen Form als Porträt zu zeigen.

Seit einiger Zeit arbeitet Beecroft mit Personen unterschiedlichen Alters, die sich dann auch nicht unbedingt entblößen müssen. Bei einer ihrer jüngsten Aufstellungen mit weiß gewandeten Frauen in Schloss Vinsebeck (Westfalen) wollte sie die Fassbinder-Diva Hanna Schygulla dabei haben. Diese zappelte wie eine Nebelkrähe, sang, murmelte und durchkreuzte das Konzept in einem Ausmaß, das es der Künstlerin schwer machte, sich mit der Arbeit noch zu identifizieren. Die Frauen rannten nach ein paar Stunden rebellisch in den Schlosspark hinaus. Diese Sequenz hat Beecroft auf den Bändern gelöscht. Wenn »Modelle« ihren eigenen Willen durchsetzen, gelangen Künstler mitunter an ihre Grenzen. Beecroft möchte stets die »ultimative Kontrolle über das Aussehen haben«.

Unter den Frauen waren auch Familienmitglieder der Künstlerin, die Mutter und die Halbschwester, was an Familienaufstellungen Bert Hellingers denken lässt und dem streng ästhetisch komponierten Werk eine therapeutische Dimension beigesellt. Ihre emanzipierte Mutter sei der »Typ einer schwarzen Krähe, düster und unheimlich«, meint Beecroft. An der wesentlich jüngeren Halbschwester faszinieren sie Ähnlichkeiten mit dem Londoner Bohemien-Vater. »Ich möchte mit ihr arbeiten, sobald ich ihr Gesicht sehe.« Deutlich wird, wie stark Beecroft aus ihrer eigenen Biografie und deren Brüchen schöpft, ohne allerdings dabei stehen zu bleiben.

Mit sehr persönlichen Jugendzeichnungen entblößt die Künstlerin in Bielefeld auch ein Stück eigene Intimität. Die zarten Bilder zeugen von fragilen Körperzuständen und gestörtem Essverhalten. Sie zeigen Körperfragmente, einen Kopf mit überlangen Haaren, eine Gestalt, die sich übergibt. Die Pubertierende hat sich für diese zwanghaft ausgeführten Zeichnungen geschämt.

In ihrer jüngsten Performance im Castello di Rivoli in Italien hat sie auf ihr gezeichnetes Tagebuch von damals und ihr pubertäres Essverhalten unmittelbar Bezug genommen. Sie hat Frauen unterschiedlichen Alters an eine lang gestreckte gläserne Tafel gesetzt. Die jüngeren sind bis auf farbige Rüschen um Fußknöchel, Arme und Hals nackt und sehen aus wie Figuren aus einem seltsamen Märchen. Das Menü, das sie serviert bekommen, ist streng nach Farben sortiert. Ein Gang enthält Kohl, Salat und Spinatsuppe, ein anderer beschränkt sich auf Tomaten, Rotwein und Himbeeren. Die Frauen wirken, als wären sie schon satt gewesen, bevor sie sich an diese Diät-Tafel gesetzt haben. Beecroft hatte als Jugendliche herausfinden wollen, ob sich einfarbiges Essen auf den Teint auswirkt.

Bei vielen ihrer Aktionen überlappen sich die Systeme Kunst und Mode. An der Schnittstelle werden Schönheit und Zwang sichtbar. Schönheit ist aus der Kunst seit der Avantgarde beinahe eliminiert worden. Beecroft speist sie mit unverfrorener Direktheit wieder ein – und schaltet zugleich den herkömmlichen Maler oder Bildhauer als Instanz aus: Die Nacktmodelle sind zugleich Ausgangsmaterial und Endergebnis. Gewalt – wer schön sein will, muss fasten – ist im Modesystem und seinen Diktaten evident, aber auch der Kunst mit ihren klassischen und modernen Normen nicht fremd: Individualität wird auch hier weg – und das Idealbild zurechtgeschnitzt.

Während üblicherweise nur die gemalten oder geformten Abbilder nackter Schönheiten ausgestellt werden, schleust Beecroft die Modelle selbst ins Museum ein. Unheimlich wirken die Mädchen, die 2001 im Guggenheim Museum in Venedig vor herausragenden Werken der Kunstgeschichte posierten, angetan nur mit Stöckelschuhen und einer eiförmigen Gesichtsmaske, die die individuellen Züge auslöschte.

Mit beinahe despotischem Gestaltungswillen und Vorbildern wie Luchino Visconti oder Piero della Francesca im Hinterkopf zwingt Beecroft lebende Körper in statische Form. »Ich gelange zu Einfachheit, indem ich kompliziertes Material manipuliere«, meint sie. Umgekehrt stattet sie neuerdings totes Material mit Lebenszeichen aus. Ein rosafarbener Abguss ihrer knienden Halbschwester – Beecrofts erste Skulptur – verströmt Atemgeräusche, Herztöne und einen betörenden Jungmädchenduft wie frisch geduscht und eingecremt. Man möchte ihn berühren.

»Als ich in den USA die extremen Reaktionen auf meine Arbeit bemerkte, entschied ich, mich auf den Aspekt der Nacktheit zu konzentrieren. Vielleicht, um eine Überdosierung beim Betrachter zu erreichen«, sagt Beecroft im Interview mit Thomas Kellein, dem Direktor der Kunsthalle Bielefeld, das als Video in die Ausstellung integriert ist. Die extrem beherrscht wirkende, an Renaissance-Schönheiten erinnernde Künstlerin räumt aber auch ein, das sie sich selber nicht so recht an entblößte Körper gewöhnen könne und nach all ihren Experimenten immer noch Impulse spüre, der Nacktheit auszuweichen. Auf die Frage, woher ihre Faszination für Frauen stamme, antwortet sie: »Vielleicht ist es reine Identifikation.«

»Müssen Frauen nackt sein, um ins Museum zu gelangen?« haben vor zwanzig Jahren die feministischen Guerrilla Girls gefragt. Beecroft antwortet: vielschichtig, weiblich und melancholisch.