Lyrik, die nützt

Zum 95. Geburtstag von Hilde Domin. von margret karsch

Sie nannte sich Domin nach der Insel Santo Domingo, die sich heute in die Dominikanische Republik und Haiti teilt. Der damalige Staat mit der gleichnamigen Hauptstadt hatte ihr das Überleben ermöglicht, und dort hatte sie zu schreiben begonnen. Hilde Domin, geborene Löwenstein, verheiratete Palm, begann nach dem Tod ihrer Mutter im Jahr 1951 zu schreiben. Da war sie 42 Jahre alt. In ihrem Gedicht »Landen dürfen« findet sich der Verweis auf die Insel Santo Domingo, der eine Erklärung für den 1954 von ihr gewählten Künstlernamen liefert: »Sie war eine Küste/etwas zum Landen/ man kann sie betreten/die Nachtigallen singen an Weihnachten dort.« Der neue Name Hilde Domin bezeichnete ihre »zweite Geburt« als Dichterin und diente auch dazu, ihr Werk nicht in Konkurrenz zu dem ihres Mannes, des Archäologen und späteren Hispanisten Erwin Walter Palm, treten zu lassen.

Hilde Domin, geboren am 27. Juli 1909 in Köln, stammt aus einer bürgerlichen, assimilierten jüdischen Familie und studierte Jura, Nationalökonomie, Soziologie und Philosophie in Köln, Bonn und Heidelberg. Sie promovierte 1935 in Florenz, nachdem sie das zunehmend vom Nationalsozialismus geprägte Deutschland 1932 mit ihrem Lebensgefährten Erwin Walter Palm verlassen hatte. 1936 heirateten sie in Rom. Doch auch das faschistische Italien war bald kein sicherer Ort mehr für jüdische Emigranten. Nach London, wohin die beiden 1939 geflüchtet waren, wurde 1940 die Dominikanische Republik zur letzten Station ihres Exils.

In einem Gespräch erzählte sie, wie sie und ihr Mann sich mit Lyrik Einblicke in die Kultur der Gastländer verschafften: »Wir haben uns jeweils eingelebt in dem neuen Land mit Gedichten. Erst italienische Gedichte. Als wir dann nach England gingen, schickten meine Eltern uns nach Italien englische Gedichte, und hinterher spanische Gedichte bei der Abreise nach Santo Domingo. Wir haben immer mit Gedichten die Sprachen gelernt.«

In Santo Domingo arbeitete Hilde Palm zunächst als Übersetzerin, ab 1948 hatte sie eine Dozentur für deutsche Sprache an der Universität inne. 1961 kehrte sie nach Heidelberg zurück. Dort, in der Nähe des Schlosses, lebt sie noch heute und genießt den Blick aus ihrer Wohnung über die Stadt und den Neckar. In dem 1968 erschienenen Roman »Das zweite Paradies« haben sich viele ihrer Erfahrungen der Rückkehr niedergeschlagen. Neben diesem und den Gedichten umfasst ihr Werk auch autobiografische, essayistische und lyriktheoretische Schriften. Ihre Reflexionen über das Schreiben und die Sprache, teils lyrisch, teils didaktisch-aufklärerisch, durchziehen auch viele ihrer poetischen Texte.

Domin spricht der Lyrik eine praktische Funktion zu, die jedoch nicht festgelegt sei durch bestimmte Absichten des Autors, sondern sich individuell und bei jedem Lesen neu ergebe. »Gedichte sind nicht auf andere gemünzt, sondern man schreibt für sich selber. Etwas ausdrücken, was einen belastet oder freut. Sie sind zweckfrei. Wie Liebe zweckfrei ist. Ich finde es sehr wichtig, dass etwas zweckfrei sein kann. Gedichte sind zweckfrei, aber hinterher wächst ihnen ein Zweck zu. Das kann sein.« So bleibt auch in dem Gedicht »Wer es könnte« der Zweck des Wunsches offen: »Wer es könnte/die Welt/hochwerfen/daß der Wind/hinduchfährt.« Domins Reflexionen über Sprache sind eng verknüpft mit den Erfahrungen der Leserinnen und Leser sowie der Autorinnen und Autoren: »Weil die Worte alle mehrdeutig sind, kann jeder Leser das Gedicht für sich aktualisieren. Sie machen fremde Gedichte zu ihren, sonst ist es ja uninteressant, dann sind es ja nur Objekte.« Nach Domins Auffassung, die sie beispielsweise in dem Gedicht »Geburtstage« formuliert, sind Worte dagegen selbstständig: »sie stehen auf/sofort/und gehn«.

Für Domin leitet sich ihre Literatur aus dem Lebenslauf ab. »Das kann gar nicht anders sein«, sagte sie. Die Heimat, ihr Verlust und die Frage nach ihrem Wiedererlangen sowie das Exil bilden zentrale Themen ihrer literarischen Texte. Zugleich wies Domin eine rein biografische Lesart zurück: »Mein Werk soll nicht auf das Biografische reduziert werden, es soll auf seine Wahrhaftigkeit hin und seine Lebenswürdigkeit hin, auf unser aller Lebenswürdigkeit hin angesehen werden.« In diesem Anspruch lässt sich die Forderung nach gelebter Humanität sowie die aktive Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte erkennen, die Domin auch mit 95 Jahren noch aufmerksam betreibt: »Ich möchte wissen, was gespielt wird. Ich bin ein neugieriger Mensch.«

Domin tritt sowohl in ihrem theoretischen als auch in ihrem poetischen Werk für Humanität ein, ohne dass sich daraus eine Anweisung zur Interpretation ableitet. Bereits 1966 hat sie den Band »Doppelinterpretationen« herausgegeben. In dieser Anthologie zeitgenössischer Lyrik stehen neben jedem Gedicht jeweils eine Interpretation des Autors und eines Kritikers. Das bildet Domins Auffassung ab, dass das Gedicht »zwischen Autor und Leser« steht. Das Gedicht entspricht einem autonomen Wesen und gleichzeitig einer Folie für verschiedene Interpretationen innerhalb eines gewissen Rahmens. In der Einleitung der »Doppelinterpretationen« schreibt Domin: »Befreit vom ›Zufall der Entstehung‹ im Augenblick seiner Veröffentlichung, macht sich das Gedicht auf zu den ›Zufällen seiner Aneignung‹: historisch-sozial-persönlich bedingten, in unabsehbarer Folge wechselnd, die sich ihm vorübergehend einverleiben, in jedem Augenblick so relativ wie im ersten. Nur anders. Der Sinn wandert mit, sich dauernd wandelnd.«

Die Entstehung der »Doppelinterpretationen« gestaltete sich nach Domin schwierig: »Der Fischer-Verlag hat das damals abgelehnt, denn es war noch nie eine Doppelinterpretation da gewesen. Meine Idee war, weltweit, glaube ich, eine Novität. Eine Böse-Buben-Idee, wenn Sie so wollen. Was ist besser, die Selbst- oder die Fremdinterpretation? Immer denkt man, der Autor müsse mehr von seinem Gedicht wissen, aber im Gegenteil, der Autor nimmt nicht genug Abstand, und infolgedessen sind die Fremdinterpretationen mit ganz, ganz wenigen Ausnahmen – zum Beispiel Enzensberger oder Franz Mon – besser.« Verschiedene Interpretationen können also nebeneinander stehen, jede von ihnen bedeutet eine Annäherung an das Gedicht. Der Autor verfügt darüber nicht, mag er auch eine bestimmte Vorstellung besitzen.

In ihrem Gedicht »Wie wenig nütze ich bin« hat Hilde Domin ein vorsichtiges Ideal formuliert: »Ich gehe vorüber –/ aber ich lasse vielleicht/den kleinen Ton meiner Stimme,/mein Lachen und meine Tränen/und auch den Gruß der Bäume im Abend/auf einem Stückchen Papier.//Und im Vorbeigehn,/ganz absichtslos,/zünde ich die ein oder andere/Laterne an/in den Herzen am Wegrand.« Über die Wirkung entscheidet der Leser.