Wie der Hunger gemacht wird

Mike Davis erzählt von der Geburt der »Dritten Welt«. von jessica zeller

Mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Sieg von repräsentativer Demokratie und Marktwirtschaft, so scheint es, haben sich viele Linke nicht nur von ihren utopischen Hoffnungen verabschieden müssen, sondern auch einiges an Vokabular und der dazugehörigen politischen Kritik ad acta gelegt. Was bedeutet heute beispielsweise »Kolonialisierung«, wo doch überall der allumfassende Kapitalismus mal mehr, mal weniger brutal herrscht? Wer redet heute noch von »Dritter Welt« außer müde belächelte Nichtregierungsorganisationen, die kosmetische Reparaturarbeiten an der als nicht abschaffbar verstandenen Armut leisten?

Der nordamerikanische Theoretiker Mike Davis, der sich vor allem als Stadtsoziologe einen Namen gemacht hat, wendet sich in seinem neuesten Buch »Die Geburt der Dritten Welt. Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter« dem fast schon unmodern anmutenden Thema dezidiert politisch zu. In seiner »politischen Ökologie« untersucht er den Zusammenhang von Klimakatastrophen in den Ländern des Südens und der damaligen weltpolitischen Situation. Er beschreibt, wie Ende des 19. Jahrhunderts Regionen, in denen es wenig regnete, zu Dürregebieten wurden, was zu unzureichenden Ernteerträgen führte und die Länder in Hungergebiete verwandelte, und wie die Regionen sowohl in politischer als auch in ökonomischer Hinsicht deklassiert wurden. In fast schon Foucaultscher Manier legt er dabei offen, wie das, was wir heute als »natürlichen« Zustand vorfinden, überhaupt erst zu diesem geworden ist. Davis schafft es, kritischer Materialist zu sein, ohne in Ökonomismus zu verfallen, erklärende Ansätze für globale Geschichte zu entwickeln, ohne Funktionalist zu sein, Umweltfaktoren ihren eigenen Wert zuzugestehen, ohne zum ökologischen Fatalisten zu mutieren. Wichtiger, als ein abschließendes Fazit aus der Geschichte zu ziehen, ist es für den Autor, die Geschichte neu zu erzählen. Denn die Dürren, die Hungersnöte und Seuchen vor allem in Indien, China und Nordbrasilien, die realistischen Schätzungen zufolge zwischen 1876 und 1901 etwa 50 Millionen Todesopfer forderten, werden selbst von den kritischen Historikern meist unterschlagen, vergessen oder als »Naturkatastrophen« deklariert.

Tatsächlich aber sei Umwelt respektive das in weiten Teilen der Südhalbkugel Dürren verursachende unregelmäßig wiederkehrende El-Niño-Phänomen kaum die »einzige unabhängige Variable« gewesen. Stärkeres Gewicht müsse, meint Davis, der sozialen Anfälligkeit gegenüber den Folgen von Klimaschwankungen beigemessen werden. Hier sei jedoch nicht ausschlaggebend gewesen, dass der Dürre bzw. dem Hunger wegen traditioneller Strukturen oder, wie einige Wissenschaftler vermuten, aufgrund einer »explosiv« wachsenden, ineffektiv produzierenden Bevölkerung in den Ländern nicht beigekommen werden konnte. Im Gegenteil: Die Länder, die Davis als Beispiele anführt, waren zu diesem Zeitpunkt bereits integraler Bestandteil der Moderne. Die Menschen verendeten im »goldenen Zeitalter« des Kapitalismus demzufolge nicht wegen der vormodernen Beschaffenheit ihrer Länder, sondern gerade weil sie zuvor in die liberalen Wirtschaftsstrukturen auf gewaltsame Weise eingegliedert worden waren und deren Prinzipien radikal auf sie angewendet wurden.

Dies betrifft insbesondere Indien: Im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts, vornehmlich unter britischer Herrschaft, diente der Subkontinent nicht nur sprichwörtlich der Aufrechterhaltung der Stellung des »Mutterlandes«. Die gewaltsame Inkorporation der bisherigen Produktionsstrukturen in die von Übersee kontrollierten Waren- und Finanzkreisläufe trug dazu bei, die traditionellen Systeme der Nahrungsmittelsicherheit der Bevölkerung, zum Beispiel Getreidespeicher oder dezentrale Wasserversorgungssysteme, zu beseitigen. In Jahren schlechter Ernten führte die Ausrichtung am Weltmarkt paradoxerweise dazu, dass Kleinbauern ihr Getreide verkaufen mussten und sich verschuldeten, so dass die Bevölkerung oft verhungerte, weil die Nahrungsmittel überteuert waren. Flankiert wurde die Ausrichtung durch einen Zwang zum Export. Zwischen 1875 und 1900, in Zeiten der schlimmsten Hungerperiode in der Geschichte des Landes, verdreifachten sich beispielsweise die indischen Getreideexporte. Hinzu kam eine einseitige Zollpolitik, die aus Indien den Hauptabsatzmarkt für englisches Tuch und andere in Europa nicht mehr konkurrenzfähige britische Produkte machte. Indische Güter hingegen wurden mit Strafzöllen belegt. Die so entstandenen Schulden, die vor allem durch die hohen militärischen Ausgaben und den zunehmenden Preisverfall der primären Exportgüter aus dem Süden in die Höhe getrieben wurden, wälzte Indien wiederum auf seinen Nachbarn China ab: über den Export von Baumwolle, Reis und insbesondere Opium, das einen damaligen Nettogewinn von 14 Prozent verzeichnete. »Englands systematische Ausbeutung von Indien«, so schreibt Davis, »basierte somit zu einem Großteil auf der kommerziellen Ausbeutung Chinas durch Indien.«

Interessant ist, wie das prunkvolle Gebaren und Kriegstreiben der Kolonialherren auch in Zeiten existenzieller Not von Millionen von Menschen einherging mit einem Diktat des »Sparzwangs« gegenüber sozialen Ausgaben des Staates. Zur gleichen Zeit, als auf den Feldern Südindiens die Ernte verdorrte, fand anlässlich der Ernennung Königin Viktorias zur Kaiserin von Indien 1876 ein einwöchiges Festmahl für knapp 70 000 erlesene Gäste statt. Bislang das teuerste Fressen in der Weltgeschichte. Dem in den folgenden Jahren sich ausdehnenden Teufelskreis aus Dürre, Hunger und Seuchen wurde von Seiten der britischen Verwaltung mit dem »Temple-Lohn« begegnet, benannt nach seinem Erfinder Sir Richard Temple. Die in Arbeitslagern zusammengepferchten Inder bekamen marginale Essensrationen zugeteilt und mussten gleichzeitig Schwerstarbeit leisten. Oft verstießen die Menschen gezielt gegen die Lagerordnung, um ins Gefängnis zu gelangen, einen im Vergleich zu den Lagern üppig mit Nahrungsmitteln ausgestatteten Ort.

Insgesamt bemüht sich Davis, verschiedenen sozialen Protestformen – auch in den »einseitigen Ausbeutungsverhältnissen« – ihren Beitrag an der Geschichte zuzugestehen. Obwohl oftmals Begriffe wie »Gewalt« und »Zwang« angemessener erscheinen als der der »sozialen Gegenmacht«, wird dennoch deutlich, wie z.B. die antiwestlich und egalitär ausgerichtete Boxer-Bewegung in China oder die Millenaristen Brasiliens, die im Nordosten des Landes religiös motivierte, quasi-sozialistische Lebensentwürfe in die Tat umsetzten, die Herrschaft dazu brachten, den von ihnen ausgehenden Gefahren mit brutalsten Unterdrückungsmaßnahmen entgegenzutreten.

Inwiefern heute an diese Widerstände positiv anzuknüpfen ist und ob die gegenwärtige westliche Politik gegenüber der »Dritten Welt« Analogien zur damaligen aufweist, lässt Davis allerdings offen. Zum Glück, kann man sagen, denn für den Kurzschluss, wonach die Täter stets die Täter und die Opfer stets die Opfer blieben, ist das Buch tatsächlich viel zu differenziert. Wenn es überhaupt eine Schlussfolgerung zulässt, dann die, dass eine Homogenität der Ausbeutungsverhältnisse im Zentrum und in der Peripherie bis heute nicht vorhanden ist.

Mike Davis: Die Geburt der Dritten Welt. Assoziation A, Berlin 2004, 480 S., 29,50 Euro