Haste eine, biste wer

Die Identität der Autonomen und Schwulen wird besichtigt. von gottfried oy

An ihrem Image der schwarz gekleideten, stets gewaltbereiten, moralinsauren und theorielosen Straßenkämpfer haben die Autonomen gut 25 Jahre gefeilt. Nicht nur die Medien gefallen sich – zumindest alljährlich zum 1. Mai – in der Reproduktion altbekannter Klischees, auch den Sozialwissenschaften ist es bislang kaum gelungen, sich diesen Deutungsschemata zu entziehen. Ähnliches gilt für die Schwulenbewegung: Obwohl sie sexualwissenschaftlich weitgehend erforscht ist, zeigte die Bewegungsforschung bislang keinerlei Interesse an einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der so genannten zweiten deutschen Schwulenbewegung. Nachdem allerdings immer mehr Aktivisten aus beiden Bewegungen ihre eigenen Erfahrungen wissenschaftlich verarbeitet haben, scheint sich inzwischen eine differenzierte Geschichtsschreibung zu etablieren. Sebastian Haunss’ Arbeit über die Bedeutung kollektiver Identitäten bei den Autonomen und in der Schwulenbewegung wirft erstmals einen interessierten Blick in den Mikrokosmos beider Szenen.

Ausgangspunkt von Haunss’ Arbeit ist seine Kritik an der pauschalen Ablehnung von Identität als reaktionärem Organisationsmodell. Er plädiert für einen genauen Blick auf die Zwischenformen jenseits tendenziell reaktionärer Identitätsbewegungen, die für die Durchsetzung und Anerkennung ihrer vermeintlich ursprünglichen Identität kämpfen, und der generellen Ablehnung nahezu jeder Art von kollektiver Organisation. Autonome oder auch Schwule seien »Solidaritätskulturen«, die auf permanent verhandelte, kollektive Identitäten aufbauen. Es gehe bei der Orientierung an kollektiven Identitäten – im Gegensatz zu essenzialistischen Identitäten – um Grenzziehungs- und Bewusstseinsbildungsprozesse sowie Auseinandersetzungen um Lebensweisen – und eben nicht um die Durchsetzung einer festgeschriebenen Identität.

Die Entwicklung dieser kollektiven Identitäten versucht Haunss anhand des aus der Bewegungsforschung stammenden Konzeptes der »Frames«, der Deutungsschemata, zu ermitteln. Diese dienen zwar ähnlich wie die großen Ideologien von Rasse, Klasse, Geschlecht und Nation zur vereinfachten Welterklärung, seien aber auch sehr flexibel und veränderbar: »Soziale Bewegungen generieren, verändern und nutzen solche Deutungsschemata, um ihr Anliegen zu kommunizieren, AnhängerInnen zu mobilisieren und um Handlungsperspektiven zu entwickeln.« Sie sind dann erfolgreich und durchsetzungsfähig, wenn »Konzepte politischen Handelns mit alltäglichen Praxen und subkulturellen Vorlieben und Stilen verbunden werden«. Im Fall der Autonomen stützt sich Haunss auf drei besonders relevante Diskussionen und deren Bedeutung für die Durchsetzung und Modifizierung von Deutungsschemata: zum einen die »Organisationsfrage«, wie sie von den Gruppen »FelS« (Für eine linke Strömung) und »AA/BO« (Autonome Antifa/Bundesweite Organisation) gestellt wurde, zum zweiten die Auseinandersetzungen um verschiedene Formen der Militanz und schließlich die Sexismus-Debatte. Für die Analyse der Schwulenbewegung nimmt sich Haunss insbesondere die Auseinandersetzungen über Pädophilie, Aids und den Gründungsprozess des schwulen Bundesverbandes BVH vor.

Gemeinsamkeiten lassen sich zunächst bei Fragen der Organisationsstruktur ausmachen. Wie in allen schwach institutionalisierten Bewegungen sind auch bei den Autonomen und den Schwulen solche Auseinandersetzungen wichtig; innerhalb der schwulen Bewegung erlahmen die Organisationsdebatten mit der Verbandsgründung schlagartig, während bei den Autonomen bis heute eine rege Beteiligung an Auseinandersetzungen über Sinn und Unsinn von Organisation zu verzeichnen ist. Sexualität spielt in beiden Bewegungen eine ebenso große Rolle. Während in der Schwulenbewegung Geschlechterverhältnisse ignoriert werden und weiterhin an der »Repressionshypothese« – eine vermeintlich freie Sexualität werde von der Gesellschaft unterdrückt – festgehalten wird, thematisieren Autonome als gemischtgeschlechtlicher Zusammenhang zwar den Sexismus, allerdings nur szeneintern. Zudem werden Geschlechterverhältnisse nur unter dem Fokus der Sexualität betrachtet. Statt von geschlechtlicher Arbeitsteilung oder anderen strukturellen Benachteiligungen ist maßgeblich von sexueller Unterdrückung im unmittelbaren persönlichen Nahbereich die Rede.

Haunss ist darüber hinaus klar, dass Bewegungen nicht nur von ihren Debatten zusammengehalten werden, weit wichtiger sind die Bewegungsszenen, wie er feststellt: »Die Verbindung von Alltagspraxen und Sichtweisen muss lebbar und erfahrbar sein, und zwar nicht isoliert für die einzelne AktivistIn, sondern kollektiv.« Den Bewegungsszenen räumt Haunss einen großen Stellenwert ein, er kategorisiert deren Bedeutung, verweist allerdings auch auf die Nachteile der andauernden Selbstbespiegelung und der Fixierung auf den eigenen Stadtteil und das eigene Wohnprojekt. Gerade weil die kollektiv ausgehandelten Identitäten nicht essenzialistisch sind, geht ein Großteil des Engagements damit drauf, sich beständig der Grundlagen des eigenen Handelns zu versichern. Es entsteht die Gefahr der Selbstbezogenheit.

Die Stärke von Haunss’ Ansatz ist sicherlich die Kombination der Analyse zentraler Debatten und der Thematisierung der Rolle von Bewegungsszenen. Das verweist allerdings auf ein zentrales Problem der Bewegungsforschung: die Fixierung auf schriftliche Quellen. Auch Haunss gelingt es nicht, den ereignisorientierten Dokumenten aus den Bewegungszeitschriften den Alltag der Bewegten gegenüberzustellen. Hier hätte es Methoden aus der »oral history« bedurft. Zudem ist der Vergleich zwischen autonomer und schwuler Bewegung auf der Ebene von Bewegungszeitschriften nur bedingt einsichtig, da nicht davon ausgegangen werden kann, dass für beide Bewegungen schriftliche Debatten den gleichen Stellenwert hatten. Insofern ist es vielleicht etwas voreilig, die schwule Bewegung vom Zeitpunkt der Kommerzialisierung ihrer Zeitschriftenprojekte an für nicht mehr existent zu erklären, während allein die Fortexistenz des Berliner Szenebulletins Interim zum Zeichen einer weiterhin regen autonomen Bewegung gemacht wird. Auch Bewegungszeitschriften bilden nur einen Teil der Bewegung ab, und was sich hinter der offiziellen schriftlichen Ebene abspielt, bleibt so weiterhin im Dunkeln.

Sebastian Haunss: Identität in Bewegung. Prozesse kollektiver Identität bei den Autonomen und in der Schwulenbewegung. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004, 291 Seiten, 29,90 Euro