Höhlen am Hang

Zu Besuch in Jinba, einem kleinen Dorf in den South Hebron Hills in der südlichen Westbank. von regina stötzel

Auf Landkarten der Westbank ist zwischen der Stadt Yatta und der Grünen Linie im Süden, der Grenze zu Israel, nichts eingezeichnet. Offiziell gibt es in dem als Naturschutzgebiet ausgewiesenen hügeligen Gebiet, den South Hebron Hills, nur einige jüdische Siedlungen und ein Ausbildungs- und Übungsgelände der Israel Defence Forces (IDF). »Diese Leute existieren gar nicht«, sagt Niv Hachlili, unser Begleiter, und meint etwa 50 palästinensische Familien, die in Jinba oder einem der kleinen Dörfer in der Umgebung leben.

Wer sich Jinba nähert, wenn er mit dem Auto aus dem Tal über eine holprige Piste schaukelt, erblickt das Dorf erst spät. Seine Bewohnerinnen und Bewohner leben vorwiegend in Höhlen natürlichen Ursprungs an den Hängen der Hügel. Von den Höhlen kann man nur die Eingangstüren sehen. Darüber hinaus stehen lediglich einige Zelte und halb gemauerte Unterkünfte herum. Das ist das Dorf.

Es ist heiß, die Sonne brennt gnadenlos, als wir die letzten Meter zum Dorf hinaufstapfen. Der Boden ist staubig, steinig und trocken. Wer ein geeignetes Kleidungsstück in der Tasche hat, bindet es sich um den Kopf. Auf dem Feld neben dem Weg stehen die Stoppeln abgeernteten Getreides.

Von Jinba aus blickt man Richtung Osten weit in die Senke, in der das Tote Meer liegt. Unscharf zeichnet sich am dunstigen Horizont ein Gebirgszug ab, der zu Jordanien gehört. Nach Süden hin ist die Sicht durch andere Hügel begrenzt, dennoch geht der Blick weit über die Grüne Linie hinaus, die nur wenige Kilometer entfernt verläuft und hier ihren Namen verdient, denn eine Sperranlage gibt es dort bislang nicht. Hinter Jinba, ganz oben am Hang, in einigen hundert Metern Entfernung lässt ein Zaun erahnen, dass es dort Nachbarn gibt, die nicht in Höhlen wohnen. Im weiten Tal sieht man vereinzelt Militärfahrzeuge oder andere Spuren der IDF.

Ezra Nawi, ein jüdischer Israeli irakischer Herkunft, und Niv werden herzlich begrüßt von einigen Dorfbewohnern, die uns schon von weitem haben kommen sehen. Ezra, der mit seinem Strohhut, dem weißem Hemd und heller Hose auf den ersten Blick an einen Kolonialherrn erinnert, arbeitet für Ta’ayush, eine arabisch-jüdische Friedensinitiative, und ist dort für die Region zuständig. Er hat einen Sack Reis dabei. Selten kommt er mit leeren Händen. Niv ist Fotograf und war schon einige Male mit Leuten von Ta’ayush oder dem Israeli Committee against House Demolitions zu Besuchen und Arbeitseinsätzen in der Gegend.

Wir werden unter ein Zeltdach geführt, wo Teppiche und dünne Matratzen als Sitzgelegenheiten für die große Runde ausgebreitet sind. Ein Junge verteilt Gläser mit süßem Minztee. Die Hälfte der männlichen Dorfbevölkerung hat sich versammelt, einige Jungen und zwei kleine Mädchen stehen am Rand. Bis vor zwei Wochen habe hier, wo wir sitzen, noch ein gemauertes Haus gestanden, beginnt Hadji Isa Amour zu erzählen, aber dann sei die IDF gekommen und habe es zerstört. Er spricht Hebräisch, weil er 20 Jahre lang in Jerusalem auf dem Bau gearbeitet hat. Niv übersetzt ins Englische.

Auch an diesem Morgen gab es unangenehmen Besuch. Den jüdischen Siedler Jakov Gadalya hätten wir um eine gute Stunde verpasst, berichtet Isa. Er sei wie so oft auf seinem Pferd den Hügel hinabgeritten und habe die Schafe und Ziegen, die in der Umgebung grasten, zurück ins Dorf getrieben, um klar zu machen, dass das Land nicht den Bewohnern Jinbas gehöre.

Während wir Isa zuhören und den nächsten Tee bekommen, nähern sich aus dem Tal zwei gepanzerte Fahrzeuge der IDF, die offenbar die beiden Kleinbusse am Rand des Dorfes gesehen haben. Soldaten steigen in einiger Entfernung aus, fahren aber bald wieder weg.

»Schon seit die Türken das Land beherrschten, sind die South Hebron Hills besiedelt«, sagt Isa. Das bekommen wir an diesem Tag mehrfach zu hören; und das soll wohl bedeuten, dass die Anwohner bereits sehr lange dort gelebt haben, jedenfalls schon bevor Israel gegründet wurde und natürlich bevor es die Westbank besetzte. Denn ob es das Dorf tatsächlich schon rund 100 Jahre gibt oder doch nicht ganz so lange, da will sich niemand festlegen. »Es gibt keine Aufzeichnungen darüber«, übersetzt Niv. Sicher ist, dass die Vorfahren der Bewohnerinnen und Bewohner aus Yatta stammen, einer Stadt zwischen Jinba und Hebron, wohin die Fahrt mit dem Traktor drei Stunden dauert.

Auch heute noch haben viele Dorfbewohner Verwandte in der Stadt, und die Kinder gehen einmal im Monat dorthin zur Schule, häufig zu Fuß. Früher dienten die Höhlen als Unterkünfte für die Schaf- und Ziegenhirten, die hier mit ihren Herden unterwegs waren. Als es in Yatta zu eng wurde, zogen viele Familien in die Höhlen, was ihnen bei denen, die von ihnen überhaupt wissen, die Bezeichnung »Cavemen« (Höhlenmenschen) einbrachte. Manche zogen auch erst nach der Besetzung der Westbank in die Höhlen, weil sie fürchteten, ihre Felder zu verlieren.

Die Region ist eine von denen, die Israel besonders wichtig zu sein scheinen, mehr als andere in den besetzten Gebieten. Das hat die israelische Politik in den vergangenen 20 Jahren gezeigt. Seit den frühen achtziger Jahren wurden dort einige jüdische Siedlungen aufgebaut (Karmel, Ma’on, Susya, Metzadot-Yehuda, Otniel, Shim’a, etc.), während sich die Versuche mehrten, die arabische Bevölkerung zum Umzug zu bewegen. Niv und Ezra vermuten, dass das Gebiet zu jenen zählt, die Israel auch im Falle der Gründung eines palästinensischen Staates nicht aufgeben möchte.

Der israelischen Zivilverwaltung sind die Dörfer nahe an der Grünen Linie ein Dorn im Auge. Die israelische Armee kommt zwar nicht täglich vorbei, aber dennoch regelmäßig. Gemauerte Häuser werden zerstört, Wohnhöhlen zugeschüttet. Jegliche Verbesserung der dörflichen Infrastruktur wird als Gesetzesbruch ausgelegt, weil offiziell der »Status quo« zu wahren ist. Mit dieser Begründung seien beispielsweise mühsam aufgebaute Plumpsklos wieder abgerissen worden, sagt Niv.

»Sie wollen uns zusammen mit den Bewohnern anderer Dörfer für eine Zeit irgendwo hinstecken«, antwortet Isa auf die Frage, wohin er und seine Leute denn gehen sollten, ginge es nach der Zivilverwaltung. »Und dann wieder woanders hin. Nichts von Dauer.« Ob ihnen auch Geld angeboten worden sei? »Ja«, sagt Isa. Aber er und seine Leute wollten das Land trotzdem nicht verlassen. »Wir wollen ja einfach nur hier in Frieden leben. Schreibt das«, fordert er uns auf. Und es bleibt nicht das einzige Mal, dass er so etwas sagt. Auch auf die Frage, wie und unter welcher Regierung er und seine Leute am liebsten leben würden, kommt immer wieder die Antwort: »Wir wollen hier auf unserem Land leben. Wir sind Bauern. Alles andere ist egal.«

Früher arbeiteten einige Dorfbewohner in Jerusalem. Doch das ist vorbei, und das war es auch schon zu Beginn der zweiten Intifada im Jahr 2000. Bereits während der Friedensgespräche in den neunziger Jahren seien die palästinensischen Arbeiter allmählich entlassen worden. Da die meisten von ihnen keine Arbeitsverträge hatten, ist an Rente nicht zu denken. »Wir leben von dem Boden, auf dem wir sitzen«, sagt Isa. Jetzt, im Sommer, ist es unvorstellbar, dass der Ertrag der Felder zum Leben reicht, doch bis Mai soll es grüner sein in der Gegend. Danach verdörrt alles unter der gleißenden Sonne. Im Winter wird angebaut, vor allem Getreide, aber auch Gemüse.

Isa ist ein angesehener Mann im Dorf. Seine Frau bewirtschaftet die Küche in der größten Höhle des Dorfes, in der auch Versammlungen stattfinden. Sie ist einige der wenigen, die sich draußen kurz mit uns unterhält. Sie lässt sich gern fotografieren, lacht in die Kamera.

Wir werden durch das Dorf geführt, dürfen einige der Wohnhöhlen besichtigen. Unter dem Zeltdach wird währenddessen im kleinen Kreis ein dicker Joint geraucht.

Die Böden in den Höhlen sind geebnet, in die dunklen, fensterlosen Räume wurden einige Podeste eingebaut. Ein leicht feucht-modriger Geruch und die Decken erinnern an den natürlichen Ursprung der wenig komfortablen Wohnstätten. Zur Einrichtung gehören Matratzen und Decken, die tagsüber beiseite geräumt werden, ansonsten nicht viel. Zum Besitz einer Familie zählen häufig noch eine Kochstelle im Freien und ein kleiner Verschlag mit zwei, drei gackernden Hühnern. Das Wasser wird in Zisternen gesammelt, Elektrizität ist ein Fremdwort. In den Höhlen und Zelten sitzen meist einige Frauen und Mädchen, die Wäsche waschen oder andere Hausarbeiten verrichten.

Seit einigen Jahren kommen Aktivisten von Ta’ayush und dem Israeli Committee against House Demolitions regelmäßig hierher und versuchen, die Bewohner der South Hebron Hills in ihrem Alltag zu unterstützen. Helferinnen und Helfer aus vielen Ländern kamen zu Arbeitseinsätzen, halfen bei der Ernte, schaufelten Höhlen wieder frei, die die IDF zugeschüttet hatte. Bei der letzten Aktion vor einigen Wochen bauten sie einen kleinen Staudamm, der das Wasser aufhalten soll, das im Winter vom Berg herunterfließt. Die Siedler hätten das Wasser oben so umgeleitet, dass es den Bewohnern von Jinba die Felder zerstöre, heißt es. Manchmal würden die Siedler auch Löcher in die Wassertanks schießen oder nachts Gewehrschüsse abgegeben, um die arabische Bevölkerung einzuschüchtern. Vor allem an den Wochenenden gebe es immer wieder Ärger.

Jakov Gadalya, der Siedler, der oben auf dem Hügel wohnt, habe einmal eines seiner Schafe erschossen, erzählt Isa. Er betont, dass Gadalya südafrikanischer Herkunft ist. »Ein Israeli tut so etwas nicht.«

Während wir unsere Besichtigungstour machen, führt Ezra Gespräche. Es geht darum, den Besitz der Familien schriftlich zu fixieren, damit sie nicht so leicht umgesiedelt werden können oder im Zuge des Baus der Sperranlage ihr Land verlieren. Ezra hat die Funktion eines mobilen Einwohnermeldeamts.

Auf dem Rundgang hören wir viele Geschichten über die Dorfbewohner. Jeder hat hier seine schlechten Erfahrungen gemacht, mit den israelischen Behörden, mit der IDF oder mit den Siedlern. Da ist der eine, dessen Vater auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben sein soll, weil er am Checkpoint aufgehalten wurde. Die Frau eines anderen, so wird erzählt, bekam aus dem gleichen Grund ihr Kind auf der Ladefläche eines Traktors. Und dann gibt es noch einen, über den man berichtet, alle seine Schafe seien beschlagnahmt und geschlachtet worden, weil sie angeblich krank gewesen seien; dann habe er für das Schlachten der Tiere auch noch eine Rechnung über 64 000 Schekel (mehr als 10 000 Euro) bekommen. Alle erzählen von zerstörten Häusern und Zisternen, von Bedrohungen und Schikanen. Als wir Isa fragen, ob es denn Unterstützung von Seiten der palästinensischen Autonomiebehörde gebe, winkt er nur ab.

Die Siedler in der Gegend von Hebron sind berühmt-berüchtigt, nationalreligiös und militant. »Niemand wird es schaffen, sie von hier weg zu bewegen«, meint Niv. Kommt man aus Jerusalem, fährt man an einigen Siedlungen vorbei. Qiryat Arba heißt die größte, die ein palästinensisches Wohngebiet nahezu umschließt. Die Straßen dorthin sind mit Schlagbäumen gesichert. Es sind größtenteils religiöse Zionisten, die aus den USA, Russland, Frankreich und anderen Ländern stammen. Von ihnen sind nur die wenigsten in der Landwirtschaft tätig, der Großteil arbeitet in Jerusalem. Die »Tunnel Road«, benannt nach einem Tunnel hinter Jerusalem, die von dort mitten durch die Westbank verläuft, wird fast ausschließlich von Siedlern befahren. An mehreren Stellen schirmen hohe Betonquader die Fahrbahn von den palästinensischen Dörfern am Rande ab, weil von dort auf die vorbeifahrenden Autos geschossen wurde.

Niv, der wie fast alle Israelis mehrere Jahre bei der Armee gewesen ist, erzählt, dass es immer sein Horror gewesen sei, in einem Armeeposten an einer Straße wie der Tunnel Road Dienst leisten zu müssen. Alle paar Kilometer stehen am Straßenrand bunkerähnliche Gebäude, komplett mit Stacheldraht umzäunt. Zwei bis drei Soldaten hocken darin und wechseln sich ab beim Wacheschieben.

»Habt ihr mal versucht, mit den Siedlern zu reden?« wollen wir wissen. »Wenn sich jemand der Siedlung nähert, rufen sie sofort die Polizei«, übersetzt Niv und ergänzt, dass auch einige Aktivisten versucht hätten, mit den Siedlern Kontakt aufzunehmen. »Die suchen nur einen Anlass, um den Leuten aus Jinba Ärger zu machen.« Ein einziges Mal, bei der letzten Ernte, habe sogar die IDF die Dorfbewohner und ihre Helfer vor ihnen geschützt.

»So, wie wir hier auf der Erde sitzen, so leben wir«, wiederholt Isa. »Wir verschließen nicht einmal unsere Höhlen. Warum sollen wir das auch tun? Wir gehören schließlich hierher. Wer 20 Leute zum Aufpassen braucht, der weiß, dass er nicht hierher gehört«, sagt er und deutet mit dem Kopf zur Spitze des Hügels.

Der Aufbruch naht. Unser Fahrer, ein junger Palästinenser aus Ostjerusalem, reitet eine Runde auf einem Esel, dann spazieren wir zurück zu den Autos. An der Frontscheibe unseres Wagens klebt ein Aufkleber mit der Aufschrift: »Wir gehen niemals raus aus Gaza.« Das sei manchmal hilfreich in der Westbank, erklärt der Fahrer.

Wir verabschieden uns auch von Ezra, der ins andere Auto steigt. Seine traurige Prognose bleibt uns im Ohr: »Es wird kein Happy End geben, für niemandem in diesem Land. Weder für die Israelis, noch für die Palästinenser.« Auf die Nachfrage, wofür er sich dann engagiere, lächelte er nur, auf seine nette, melancholische Art.

Es geht zurück über die steinige Piste, die von einem Stück geteerter Straße unterbrochen ist, das so unvermittelt wieder aufhört, wie es angefangen hat.

Wir werden angehalten. Bei uns, die wir nicht an die israelischen Zustände gewohnt sind, löst es ein unangenehmes Gefühl aus, wenn Soldatinnen und Soldaten mit der Hand am Abzug ihres Gewehrs um das Auto gehen. Niv antwortet dem Soldaten, der offensichtlich wissen will, was wir hier verloren haben. Aber aus dem Frage-Antwort-Spiel entwickelt sich schnell eine Plauderei; beide fangen an zu grinsen. Als wir weiterfahren, erzählt Niv von dem Gespräch, in dem er nicht für sich behielt, dass er einige Zeit bei dieser Einheit verbracht hat, den »Green Berets«. Ob er jetzt ein Linksextremist sei, habe der Soldat wissen wollen. Über die Leute in Jinba weiß er so gut wie nichts, so wenig wie Niv über sie wusste, als er hier als Soldat stationiert war.

Weiter Richtung Hebron sehen wir ein etwa 15jähriges Mädchen am Straßenrand stehen und trampen. Es trägt ein T-Shirt, einen langen Rock, Sandalen und einen kleinen Rucksack auf dem Rücken, ganz eindeutig ein Spross jüdischer Siedler. Das Mädchen scheint sich hier sehr sicher zu fühlen.

Weitere Infos unter: www.southebron.tk, www.taayush.org, www.icahd.org