Wer hat die Macht?

Das Münchner Haus der Kunst zeigt eine umfassende Werkschau des niederländischen Videokünstlers Aernout Mik. von heike runge

Schwarmintelligenz – dieses schöne Modewort aus der Kybernetik fällt einem zu den Arbeiten des niederländischen Videokünstlers Aernout Mik ein. Er schaut, in welchen Einheiten und Formationen der Mensch vorkommt und wie er sich darin bewegt. Seine Installationen befassen sich mit dem großen Thema Mensch und Masse und zeigen soziale Kollektive, die ohne eine zentralisierte Oberaufsicht, ohne erkennbares Ziel und Pläne funktionieren. Es herrscht darin das perfekte Chaos des Ameisenhaufens. Zugleich bilden seine Menschenansammlungen höchst instabile Systeme, die störanfällig sind.

Arbeiten von Aernout Mik, der 1962 in Groningen geboren wurde und heute in Amsterdam lebt, waren seit 1987 in zahlreichen Ausstellungen, unter anderem auf den Biennalen von Sao Paulo (1991), Venedig (1997 und 2001), Melbourne (1999), Berlin (2001) und Istanbul (2003) zu sehen. Die erste umfassende Werkschau in Deutschland wird jetzt im Haus der Kunst in München gezeigt. »Dispersionen« bildet dabei den zweiten Part einer Ausstellungstrilogie zur zeitgenössischen Kunst aus den Niederlanden, die mit der Droog-Design-Retrospektive – droog steht für Sachlichkeit – begonnen hat und mit einer Ausstellung zur Architektur von Rem Kolhaas im Herbst 2004 abgeschlossen wird. Mik, Kolhaas und die Droog-Designer haben miteinander gemein, dass sie sich mit den Räumen und Dingen beschäftigen, mit denen sich Menschen heute umgeben.

Meisterstück und Ausgangspunkt der Aernout-Mik-Schau ist der eigens für das Haus der Kunst konzipierte »Dispersion Room«. Die Einbeziehung des Betrachters wird im »Dispersion Room« durch die Verschmelzung von Bildraum und Realraum erreicht. So stehen die Büromöbel des Videos auch im Ausstellungsraum herum und sind Teil der begehbaren Rauminstallation. Man setzt sich an einen Computerarbeitsplatz und befindet sich mitten drin im Großraumbüro, das auf hohe Leinwände projiziert wird.

Durch den Büroraum schwärmen typische Büroangestellte; es herrscht hektische Betriebsamkeit. Männer und Frauen laufen eilig hin und her, telefonieren oder tragen Akten herum. Kleine Gruppen bilden sich und diskutieren. Ein Mann im blauen Kittel klettert auf eine Leiter, andere Männer entfernen die Deckenverkleidung und fummeln angestrengt an Kabeln herum. Einem älteren Glatzköpfigen rinnt Blut aus der Nase. Das interessiert aber niemanden. Irgendwann sitzen alle völlig erschöpft auf dem Boden herum, trinken Wasser aus Pappbechern und starren ins Leere. Die Männer haben sich die Jacketts ausgezogen, die Krawatten gelockert und die Hemdsärmel aufgekrempelt. »Was ist da los?« will man wissen und steckt in der Deutungskrise.

»Dispersion Room« integriert visuelle Elemente des Katastrophenfilms und des Medienberichts über Schreckensereignisse. Die Menschen, die im Großraumbüro herumhocken, wirken wie Unfallopfer, die auf Rettung warten, oder wie Geiseln in einer Bank oder wie Passagiere, deren Flug gecancelt wurde.

In ihrem Katalogbeitrag schreiben Jennifer Fisher und Jim Dobnik, dass sie sich von Miks Videoporträt der Angestelltenkultur auf subtile Weise an Szenen aus den Berichten über die kriminellen Machenschaften bei Enron oder über die Dezimierung der Mitarbeiterzahl der Brokerfirma Cantor Fitzgerald im World Trade Center erinnert fühlen. Solche Ereignis-Zitate verweisen auf das übergeordnete Thema »Krisensituation«, das bei Aernout Mik in fast allen Versuchsanordnungen durchgespielt wird und sowohl das Durcheinandergeraten der Gruppe als auch die Verwirrung des Einzelnen abbildet. Dabei spiegeln seine Menschenansammlungen das Bewusstsein kleiner Gruppen im sozialen Imaginären, in dem von Nischenmärkten bis hin zu Gruppen mit Spezialinteressen, von Subkulturen bis hin zu Kulten alles vertreten ist. Wollte man seine Gesellschaften im politischen Spektrum ansiedeln, dessen einer Pol die Macht und und dessen anderer der Widerstand ist, wären sie in der unbestimmten und deprimierten Mitte anzutreffen. Insofern sind seine Arbeiten auch weit davon entfernt, emanzipatorisch sein zu wollen, sagen Fisher und Dobnik.

Was in den Großraumbüros und Lagerhallen, auf den Parkplätzen und Küchen oder den anderen unwirtlichen Orten, die Aernout Mik von seinen Darstellern bespielen lässt, eigentlich vor sich geht, welchen sozialen Regeln und individuellen Motiven die auftretenden Personen verpflichtet sind, ist für den Betrachter undurchschaubar und bleibt weitgehend deutungsoffen. Was geschieht in »Kitchen« (1997) und warum? Das Video zeigt eine schicke Einbauküche wie aus einem Werbefilm für Designermöbel, die plötzlich von ein paar alten Männern gestürmt und zum Schauplatz eines absurden Gerangels inklusive auf die Nase hauen, an den Haaren ziehen und beißen gemacht wird. In »Zone« (2002) ist das randalierende Personal erheblich jünger, das Geschehen aber nicht weniger grotesk. »Zone« ist eine Videoinstallation auf vier Screens; eine Gruppe Jugendlicher wird mit dem lauernden Blick der Überwachungskamera dabei beobachtet, wie sie eine LKW-Ladung mit Pappkartons zerstört. In dem herrlich destruktiven »Pulverous« (2003) haben sich Personen in einer Lagerhalle voller Lebensmittelregale versammelt, um sehr konzentriert eine Art Inventur vorzunehmen. Deren Ziel scheint es zu sein, möglichst große Materialschäden zu erzeugen. Regale werden umgestoßen, Paletten durch den Raum geschleudert, auf Cornflakes wird herumgetrampelt, Packungen mit Babywindeln werden zerrupft.

Es gibt keine Rollen, keine Erzählung, keine Dialoge, keinen Ton, keinen Kommentar, keine schönen, keine spektakulären Bilder; einfach nichts, was eine filmische Narration ausmacht. Dennoch geht von den Videos, die als Loops angelegt sind und eine Unterscheidung von Anfang und Ende nicht mehr zulassen, eine ungeheure Faszination aus. Sie ziehen einen mitten hinein ins Geschehen und wecken den Wunsch, dass man die Situation durch genaues Beobachten am Ende dechiffrieren und ihre Organisationsform definieren könnte. Genau in diesem Sinne schaut man auf die Videoarbeiten mit einem explizit politischen Interesse. Wer oder was hat die Macht, wenn niemand die Macht hat?

Aernout Mik: Dispersionen. Haus der Kunst, München. Bis 12. Oktober. Der Ausstellungskatalog ist bei Dumont erschienen.