Einfach draufhalten

Der Regisseur John Cassavetes wird derzeit wieder entdeckt. Sein erster Film »Shadows« ist nun im Kino zu sehen. von madeleine bernstorff

Mein Gesicht ist ein Emotionsunternehmen.« Mit diesen Worten interpretiert und aktualisiert René Pollesch in seinem Theaterstück »Frau unter Einfluss« den gleichnamigen und erfolgreichsten Film des amerikanischen Independent-Regisseurs John Cassavetes. Mit verstärktem Interesse an den affektiven Produktivkräften wird hier ein Filmemacher rezipiert, der sich für nichts so interessiert hat wie für seine Schauspieler und deren Emotionen.

Das FSK-Kino in Kreuzberg hat vor kurzem damit begonnen, Filme von Cassavetes wiederaufzuführen. Im Rahmen dieser Reihe wird nun auch der erste Film des Regisseurs, »Shadows« (1959), wiederaufgeführt. Cassavetes’ Filme nehmen auf viel wahrhaftigere Weise vorweg, was Dogma 95 – durch Digitalkameras technisch ermöglicht – zu versprechen schien. »Shadows« ist »ein plotloser, episodischer Film, ohne Script gedreht. Ursprünglich bestand er aus einer Serie von Improvisationen, die einige Ereignisse im Leben einer afroamerikanischen Familie erzählen. Durch Improvisationen und Gefühlsausbrüche baut sich der Film langsam auf. Gleichzeitig entsteht ein Bild der Stadt, mit ihren Nachtstraßen und Nachtmenschen. Die Stimmung der Stadt, die Beziehungen der Leute, zärtliche Liebe und Familienstreitigkeiten, alles wird uns auf eindringliche Weise enthüllt. Doch am Ende hat sich nicht viel geändert oder gelöst. Aber diese Beiläufigkeit und das Fragmentarische machen den Film genau deshalb so überzeugend, so spontan und so wahrhaftig.« Dies schreibt Jonas Mekas 1960 im Magazin Film Culture, um dann gleich noch nachzulegen und gegen eine zweite Version des Films zu wettern: Cassavetes hatte nach der desaströsen Premiere und auf Anraten der Verleiher große Teile des Films neu gedreht und geschnitten, um ihn für die kommerzielle Auswertung geeigneter zu machen. »Das Resultat ist ein bastardisierter, hybrider Film, der nicht die Spontaneität, Unschuld und Frische der ersten Version hat!«, meint Mekas. Und an anderer Stelle sagt er: »Je eher die zweite Fassung aus dem Verkehr gezogen wird, umso besser!«

Diese zweite Version wurde dennoch vor allem in Europa geehrt, die erste galt schon bald als verschollen. Der Mythos um die Ur-Version dauerte fort, bis der Cassavetes-Spezialist Ray Carney nach endloser Suche und immensen Investitionen diese bei einer Familie in Florida entdeckte, die Kopie kam aus einer Versteigerung des Fundbüros der New Yorker U-Bahn. Nach diesem spektakulären Fund schalteten sich die Erben von Cassavetes und Rechteinhaber ein und untersagten die Aufführung von »Shadows« Nr.1. 45 Jahre nach seiner Premiere zeigte das diesjährige Filmfestival in Rotterdam den Film dennoch, nicht ohne sich offiziell für den Verstoß gegen das Aufführungsverbot zu entschuldigen.

Das FSK-Kino jedoch bringt nun »Shadows« Nr. 2 von 1959 mit dem Soundtrack von Charles Mingus ins Kino. Tom Charity zufolge, der in Sight and Sound (März 2004) die beiden Versionen vergleicht, hat Cassavetes keinen faulen Kompromiss gemacht, sondern eher das bereits angelegte Material verfeinert. »Als ob sich Cassavetes’ Blick auf die Welt vertieft hat. Es ist eine seltene Erfahrung, einen Film zweimal zu machen, eine Schule, die Cassavetes niemals vergaß.«

Der Hipster Ben, die zwanzigjährige Lelia und der Nachtclub-Sänger Hugh sind Geschwister und stromern durch die Stadt. Hugh muss als schwarzer Sänger Hupfdohlen-Shows ankündigen. Auf einer Party lernt Lelia den Flirt-Routinier Tony kennen. Es folgt die bestürzende Geschichte von Lelia, die mit Tony schläft, ihre erste Liebesnacht verbringt und dann bitter bemerkt, dass etwas fehlt: »I didn’t know it could be so awful«, stellt sie fest. Später entdeckt Tony durch das Zusammentreffen mit Lelias Brüdern, dass sie aus einer schwarzen Familie kommt und stößt sie zurück.

Wie Thomas Arslans »Kardesler« (1997) handelt »Shadows« von Geschwistern, von denen die einen sich eher an die Mehrheitsgesellschaft anpassen, während die anderen ihre liebe Mühe mit ihr haben.

Wenn Cassavetes heute wieder entdeckt wird, ist es sinnvoll nachzusehen, wie Bewegungen wie die Nouvelle Vague, das Free Cinema und das dokumentarische Direct Cinema eine Umgebung bildeten für die ersten Filme von Cassavetes, aber auch für die von Shirley Clarke und Lionel Rogosin, die bei der Verfertigung des gängigen Filmkanons eher marginalisiert wurden.

Lionel Rogosin hatte zur selben Zeit wie Cassavetes mit seinem Film über das Apartheidsystem in Südafrika »Come back, Africa« eine Form des dokumentarischen Spielfilms entwickelt, der der herrschenden politischen Realität gerecht wurde. Er konnte ohne Schwierigkeiten, wenn auch gelegentlich nur mit versteckter Kamera, in Johannesburg in den schwarzen Slums und in den Bergwerken filmen. Und Shirley Clarke bewegte sich mit ihren Theaterverfilmungen und dem umstrittenen »Portrait of Jason« nah am Synthetisch-Dokumentarischen.

Aber wie der französische Filmkritiker Serge Daney sagt: »Als hätte es nicht schon immer Mischungen gegeben. Alle guten ›Dokumentaristen‹ situieren sich irgendwo zwischen Fiktion und Dokumentarfilm in der Zone des Virtuellen.« Die Filme des Direct Cinema sollten evozieren, dass die Geschichten sich von selbst erzählen und man nur die (unsichtbare) Kamera hinzuhalten und zu beobachten habe. Dass diese Filme dann wiederum mit einer sehr expliziten Fiktionalisierung arbeiteten, die den Zuschauern zusätzliche Spannung bringen sollte, verblasste jedoch hinter der Begeisterung über Mobilität und politisches Potenzial.

Inzwischen hat übrigens auch Jonas Mekas eingesehen, dass die zweite Version von »Shadows« der »wirkliche Cassavetes« ist, nicht die erste: »Ich vermisste damals die Richtung, in die ich selbst unterwegs war – ich vermisste mich selbst!«

John Cassavetes: Shadows (USA 1958). Start: 12. August im FSK Kino Berlin.