25.08.2004

Die Kinder erinnern

Vor 60 Jahren wurden im toskanischen Bergdorf Sant’Anna di Stazzema 560 Menschen von deutschen Truppen ermordet. Zu den Gedenkfeierlichkeiten kam auch Otto Schily. von lars reissmann, sant’anna di stazzema

Eine halbe Autostunde nordwestlich von Pisa schlängelt sich von der Küstenstraße eine zehn Kilometer lange schmale Asphaltstraße ins 600 Meter hoch in den apuanischen Alpen gelegene Sant’Anna di Stazzema. Hier wurden vor 60 Jahren 560 Menschen von nationalsozialistischen Truppen ermordet. Am Jahrestag des Massakers erschien als erster offizieller deutscher Regierungsvertreter Otto Schily in Sant’Anna.

Am Vorabend des Jahrestages deuten nur einige Absperrschilder auf den Rummel des nächsten Tages hin. Im Gegensatz zur Hitze in der Ebene am Meer ist es oben in Sant’Anna angenehm kühl. Auf dem mit Platanen bestandenen Platz vor der kleinen Kirche, wo Soldaten der SS-Division »Reichsführer SS« am 12. August 1944 vor allem Kinder und Frauen niedergemetzelt und anschließend die Leichen verbrannt haben, laufen die letzten Vorbereitungen für den Gedenktag. Kränze werden angeliefert, in der Backstube hinter dem kleinen Kiosk am Platz wird Brot gebacken, vielleicht ein bisschen mehr als sonst.

Auf dem Kirchplatz stehen die neuen Skulpturen des Bildhauers Novello Finotti: »Soffio d’anime« – Der Hauch der Seelen – in weißem und schwarzem Marmor. Im Museum nebenan in der umgebauten ehemaligen Schule ist die neue Ausstellung zu sehen: »I bambini ricordano« – Die Kinder erinnern. Die alte Ausstellung mit Tafeln zur Geschichte der Resistenza, zur militärischen Situation zwischen 1943 und 1945 in Norditalien, der deutschen Verteidigungslinie, der »Linea Gotica« , zum Kriegsverlauf und zum Massaker steht nun zusammengepackt in einem Nebenraum. Geblieben sind die Vitrine mit einigen Fotos und Habseligkeiten der Opfer, eine große Tafel zu den Opfern des Massakers und die Tonskulpturen von Harry Marinsky mit dem Titel »One War or one Peace«. Die Besucher schauen jetzt in die Gesichter von etwa 50 Menschen, die das Massaker als Zwei- bis Zwölfjährige überlebten. Von ihnen gibt es jeweils ein großes Schwarzweiß-Foto mit einem Statement auf schwarzen und roten Tafeln.

Wer nicht nur auf ästhetische Gesichtspunkte der Präsentation achtet, erkennt sofort, dass es sich hier um Zeugenaussagen in einem öffentlichen Prozess, um eine Anklage handelt. Ob es ein Massaker ohne Schuldige bleibt, wird vor dem Militärgericht im nahen La Spezia entschieden werden. Erst im vergangenen April begann in Abwesenheit der angeklagten SS-Offiziere vor dem italienischen Militärgericht in La Spezia der Prozess gegen einige der mutmaßlichen Täter. Spät, aber nicht zu spät.

Es ist dunkel geworden am Abend vor Schilys Staatsbesuch, als die Leute sich langsam zu einem stillen Zug zum »Knochenhaus«, dem Turm zum Gedenken an die Opfer, vor der Kirche einfinden. »Wer gläubig ist, kann religiöse Gebete sprechen, die anderen laizistische«, sagt der Überlebende Enio Mancini. Bedächtig ziehen die gut 100 Menschen, auch einige auswärtige und wenige Deutsche, mit bunten Kerzenlichtern langsam in weitem Bogen durch den Wald, auf dem einfach gestuften Steinpfad hoch zum 500 Meter entfernten Knochenhaus.

Oben angekommen und nach einem kurzen Gebet des Geistlichen trägt die Schauspielerin Elisabetta Salvatori mit musikalischer Begleitung ihre Bearbeitung der Berichte der Überlebenden Enio, Leopolda und Mario vor. Der Text »Das Scharren unter den Platanen« erzählt die Geschichte des Massakers von der Vorgeschichte bis zur Befreiung und ist gleichzeitig eine Liebeserklärung an die Versilia, die nördliche toskanische Küste um Stazzema, Carrara und Viareggio.

Barfuß, von einer Violine begleitet, erzählt Elisabetta die Geschichte von dem abgeschiedenen ländlichen Ort, an den im Sommer 1944 viele Menschen flüchten, vor dem Krieg, vor den möglichen Verhaftungen zur Zwangsarbeit in Deutschland. Und vor den Bombardierungen der Küstenstädte durch die Alliierten. Nachdem bereits der Ort Farnocchia auf der anderen Seite des Bergkamms von den Deutschen niedergebrannt worden war, versteckten die Menschen wichtige Dinge lieber außerhalb der Häuser. Doch mit der grenzenlosen Mordlust, die auch Frauen, Kinder und Alte nicht verschonte, hatte niemand gerechnet.

Nach der berührenden Aufführung, dem gebührenden Applaus und den herzlichen Danksagungen tritt eine der Überlebenden nach vorn. Sie ergänzt sichtlich bewegt einige Details. Auf dem Weg hinab zum Dorfplatz sagt sie, dass es keinen Grund, keine Rechtfertigung für das Verbrechen geben kann. »Die 17 Männer aus dem Ort, die sich vor dem Zugriff der Deutschen versteckt hielten, können wohl kaum ein Grund für so eine Mordtat sein. Auch wurde in Sant’Anna kein Nazi getötet, kein Faschist oder Kollaborateur, und auch kein Partisan. Nein, es gibt keinen Grund, aber die Täter... Ich möchte ihnen in die Augen sehen und fragen: Warum?«

Am nächsten Morgen haben die Carabinieri die Straße nach Sant’Anna für Normalsterbliche gesperrt. Ein Bus-Shuttle-Service ist eingerichtet, überall am Weg sind Sicherheitskräfte zu sehen, der Parkplatz oben in Sant’Anna ist den Einsatzfahrzeugen und Übertragungswagen zugeteilt. Die Delegationen der Opfer- und Partisanenorganisationen aus verschiedenen Orten treffen ein. Es sind zumeist ältere Menschen, die zum Gedenken gekommen sind.

Eine inhaltliche Kritik am Besuch von Otto Schily muss sich im Kern mit zwei aktuellen Urteilen deutscher Obergerichte auseinandersetzen: dem Ausschluss der italienischen NS-Zwangsarbeiter von einer Entschädigung durch das Bundesverfassungsgericht (Jungle World, 31/2004) und dem Freispruch des SS-Offiziers Friedrich Engel durch den Bundesgerichtshof. Engel wurde im Jahr 1999 vom Militärgericht La Spezia wegen 246fachem Mord zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Durch diese Entscheidung genötigt, verurteilte das Hamburger Landgericht den ehemaligen SS-Chef von Genua für eines dieser Verbrechen, nämlich die Erschießung von 59 Geiseln am Turchino-Pass bei Genua, zu nur sieben Jahren Haft. Das Urteil des Landgerichts wurde vom Bundesgerichtshof am 17. Juni dieses Jahres in der Revision aufgehoben, eine Wiederaufnahme ausgeschlossen. Wie das Hamburger Gericht urteilten auch die Bundesrichter, dass die Geiselerschießung eine rechtmäßige Repressalie als Antwort auf einen Anschlag auf ein Soldatenkino gewesen sei. Die Mordtat am Turchino-Pass sei nicht im juristischen Sinne als Mord anzusehen. Es sei »nur« Totschlag gewesen, da die Tatausführung entgegen dem Hamburger Urteil nicht als grausam zu bewerten sei. Totschlag ist nach deutschem Recht jedoch bereits verjährt. Bei einer Anklage wegen Mordes aus weitergehenden Gründen – wie Rache, Mordlust etc. – hätten die Nazis die Tat bereits verfolgen können, so dass auch dieser Straftatbestand verjährt sei. Wegen des hohen Alters des ehemaligen SS-Offiziers und dieser möglichen Verjährung sei das Verfahren nicht mehr durchzuführen, da der NS-Täter Engel sonst zum Opfer der Justiz werden könne.

Anlässich des 60. Jahrestages des Massakers im griechischen Distomo im vergangenen Juni musste der deutsche Botschafter, Albert Spiegel, auf einer Gedenkveranstaltung vor Transparenten sprechen, auf denen die sofortige Entschädigung der NS-Opfer gefordert wurde. Auch die Dorfbewohner hielten zum stillen Protest entsprechende Schilder hoch. Provoziert hatte dies der Pressereferent Thomas Mützelburg im Anschluss an eine Informationsveranstaltung des Arbeitskreises Distomo mit den Worten: »In ganz Europa gab es 56 Feindstaaten von Deutschland. Wenn Sie die alle entschädigen wollen, dann können Sie durch die finanziellen Auswirkungen die Zukunft Europas abschreiben.«

Während oben am Knochenhaus der Gedenkgottesdienst mit Abendmahl gefeiert wird, kommen unten im Ort Otto Schily und sein italienischer Amtskollege Giuseppe Pisanu zu ihrem Zwischenstopp in Sant’Anna an. Sie haben den Jahrestag genutzt, um sich über Pläne zur Abschottung gegen Migration aus Nordafrika zu verständigen. Ihre neuen alten Lager-Ideen hatten sie im nahe gelegenen Lucca präsentiert, welches symbolträchtig als eine der wenigen Städte einen komplett erhaltenen Festungsring aus dem 16. Jahrhundert besitzt. Am folgenden Tag wird der Toskana-Urlauber Otto Schily bereits auf der Eröffnungsveranstaltung der Olympischen Spiele in Athen erwartet.

Verfolgt vom Tross aus Presse, Prominenz und Polizei, weihen die Sicherheitsminister den Skulpturenpark unten auf dem Kirchplatz ein. Oben am Gedenkturm stellt man sich in Erwartung der Gedenkreden auf. Entlang des Weges zum Gedenkturm wird von Polizei, Militär, Feuerwehr, Opferorganisationen und Partisanenverbänden mit bunten Standarten ein Spalier gebildet. Alle warten auf die leicht verspäteten Regierungsmitglieder.

Die zentrale Gedenkfeier mit den politischen Reden wird von Enio Mancini moderiert. Er lässt es sich nicht nehmen, die Delegationen der Partisanenverbände zu begrüßen. Denn im heutigen Italien übergeht man sie gerne einfach. Schließlich gehörten einige Mitglieder der Rechtsregierung zu den Unterstützern des faschistischen Marionettenregimes der Republik von Salò unter Mussolini.

Zunächst sprechen zur Begrüßung der Bürgermeister von Stazzema, Michele Silicani, und Enrico Pieri als Überlebender des Massakers. Beide sprechen über die Wichtigkeit des Prozesses in La Spezia und beenden ihre Reden mit dem Appell für eine friedliche Entwicklung in Europa und der Welt.

Otto Schily spricht »für uns Deutsche« vom »Tag der Schande«. Die kompensierende Anlehnung an den »Schrank der Schande«, in dem die Ermittlungsakten über NS-Verbrechen in Rom über Jahrzehnte verschlossen waren, ist allzu deutlich. Er betont vom 20. Juli bis zu Willy Brandt den deutschen Widerstand gegen die NS-Verbrechen, den es jedoch kaum gegeben hat. Auf die Bewertung des Massakers von Sant’Anna bezogen, weiß Anwalt Otto Schily: »Es bedarf keiner juristischen Klügeleien, um zu erkennen, dass das, was am 12. August 1944 in Sant’Anna di Stazzema geschah, blanker, brutaler Massenmord war.« Er unterschlägt allerdings die Praxis bundesdeutscher Rechtsprechung, ihre »Klügeleien«, Spitzfindigkeiten und die bewusste Verschleppung von NS-Verfahren. Die abmildernde Bewertung auch schwerster Tötungsdelikte gehört schließlich seit der Verjährung von Totschlag zum üblichen Repertoire des Täterschutzes für NS-Verbrecher. Die Argumentation des Bundesgerichtshofs im Fall Engel geht so weit, dass auch Mordtaten an Frauen und Kindern wie in Sant’Anna verjährt sein könnten, wenn die NS-Militärjustiz diese Taten theoretisch hätte verurteilen können – was sie allerdings aus leicht begreiflichen Gründen nie getan hat.

Der Europa-Gedanke beider Innenminister findet in der inneren Sicherheit und dem Schutz vor Verbrechen seinen Ausdruck. Die Beratungen in Lucca am Vormittag schlagen bei Giuseppe Pisanu so weit durch, dass er in Sant’Anna verkündet, dass »das Problem illegaler Einwanderung« mit »europäischer Würde« gelöst werden müsse.

Er assistiert Schily, indem er dessen Spende für den Friedenspark erwähnt. Otto Schily hat in Sant’Anna viel Applaus für seine Rede bekommen, ob für den Inhalt seiner Rede oder die Spende über 20 000 Euro, sei dahingestellt. Für die Bundesregierung war es allemal eine billige Show im Reigen der Versöhnungstour zu den Jahrestagen der NS-Verbrechen und der Befreiung, mit der nach der Normandie (Jungle World, 25/2004) und Warschau am 8. Mai 2005 vorerst Schluss sein soll.

»Irgendwas muss faul sein. 60 Jahre hat sich kein Politiker hier blicken lassen. Und nun kommen sie alle«, stellt eine alte Frau fest, nachdem Schily und Pisanu ihre Reden beendet haben.

Unten im Dorf wird vom Innenministergespann noch schnell die neue Ausstellung eröffnet. Als der Konvoi der Innenminister nach knapp zwei Stunden wieder abfährt, singen einige ältere und ein paar junge Frauen zum Protest »Bella Ciao«, das berühmte Lied der italienischen Partisanen. Es kehrt wieder Stille im Ort ein. Der Bildhauer zeigt einer Gruppe seine Plastiken.

In den italienischen Medien liegt der Schwerpunkt der Berichterstattung auf den Gesprächen der Innenminister über die Maßnahmen gegen die Flüchtlinge aus Nordafrika. Bilder von Schily und Pisanu in Sant’Anna weden da gezeigt. In den Berichten zum Gedenktag wird immer der Bezug zum Prozess in La Spezia hergestellt, wo erst am 6. Oktober wieder verhandelt wird.

Die Anwälte der deutschen Angeklagten versuchen sich beim Verfahren in Italien wie üblich in der Verschleppung. Nach dem Urteil in La Spezia soll es auch in Stuttgart zum Prozess kommen, wurde den Opfern versichert. Die Ermittlungen der deutschen Staatsanwälte werden allem Anschein nach allerdings nicht besonders engagiert betrieben. Vor dem Hintergrund des Urteils des Bundesgerichtshofes im Fall Engel ist weiterhin politischer Druck notwendig, damit es wirklich zur Prozesseröffnung in Deutschland kommt.

Da in Italien ja in Abwesenheit der Angeklagten verhandelt werden muss, kündigt Enio Mancini an: »Wir werden nach Stuttgart fahren und den Tätern in die Augen blicken.«

Weitere Informationen unter:

www.resistenza.de/krieg/anna.htm