Kein feiner Zug

Verspätungen, hohe Preise, schlechter Service wegen Entlassungen: Hartmut Mehdorns Reform der Deutschen Bahn führt sie noch tiefer in die Krise. von tim engartner

Noch vor wenigen Jahren warb die Deutsche Bahn mit einem Plakat, auf dem ein sich küssendes Pärchen zu sehen war. Darauf stand: »Eigentlich wollte er den IC um 10.27, 11.27, 12.27 usw. nehmen.« Die Botschaft lautete: Unser Kunde darf spontan, frei und individuell sein, die Bahn ist ein flexibler Dienstleister. Heute jedoch müsste auf dem Plakat stehen: »Ich muss jetzt leider fahren, Schatz, mein Ticket gilt nur um 10.27 Uhr.«

Es sind aber nicht nur die geplatzten Träume der Fahrgäste von flexibel nutzbaren, preiswerten und pünktlich einlaufenden Zügen. Auch die Träume des Managements der Bahn vom baldigen Börsengang warten weiterhin auf ihre Verwirklichung. Denn statt eine Renaissance zu erleben, wie es die Verfechter der Bahnreform einst vollmundig versprachen, fährt die Bahn täglich tiefer in die Krise.

Trotz aller Beteuerungen der vergangenen Monate, die Fahrpreise nicht erhöhen zu wollen, erklärte der Vorstandsvorsitzende der Bahn AG, Hartmut Mehdorn, in der vorvergangenen Woche, wegen der gestiegenen Energiepreise sei ein »neues Nachdenken« über die Fahrpreise erforderlich. Hartmut Buyken vom Fahrgastverband Pro Bahn fände eine weitere Preiserhöhung »nicht angemessen«. Er sagte der Jungle World: »Mehdorn vermischt da einiges. Dieselkraftstoff ist teurer geworden, aber das betrifft die Bahn nicht so stark. 95 Prozent der Fahrzeuge werden elektrisch betrieben.« Buyken sieht einen anderen Beweggrund für mögliche Preiserhöhungen. »Mehdorn will mit aller Gewalt an die Börse. Dafür will er kurzfristig in die schwarzen Zahlen kommen.«

Die größten Verluste bringt dem »Unternehmen Zukunft« nach wie vor der Fernverkehr, der nach Angaben der Bahn allein im ersten Halbjahr 2004 ein Minus von 214 Millionen Euro erbracht hat. Von der Krise der Bahn zeugt auch der angekündigte Verkauf von 99 Bahnhöfen in Nordrhein-Westfalen. Streckenstilllegungen, Personalabbau, Verluste in Höhe von mindestens 24 Milliarden Euro seit Beginn der Bahnreform im Jahre 1994 (Geschäftsbericht der Bahn AG 2002), enorme Einbußen im Bereich der Frachtdienstleistungen, so sieht die Bilanz Mehdorns aus. Die Deutsche Post AG mitsamt ihrem Frachtdienstleister DHL etwa wickelt den Transport von Paketen und Briefen inzwischen ausschließlich über die Straße ab. Der Anteil der Bahn am grenzüberschreitenden Transportvolumen sank trotz des wachsenden Transitverkehrs von 56 Prozent im Jahre 1950 auf mittlerweile 15 Prozent.

Im Jahr 1966 lag die Bahnhofsdichte, also die durchschnittliche Entfernung von einem Bahnhof zum nächsten, in Westdeutschland noch bei 4,1 Kilometer, legte der ehemalige Bundestagsabgeordnete der PDS, Winfried Wolf, in seiner Bilanz der Verkehrs- und Bahnpolitik unter dem Titel »Die sieben Todsünden des Herrn M.« dar. Im Jahr 2002 lag sie nur noch bei 7,6 Kilometer. Das ist vergleichbar mit einer Streichung jeder zweiten Autobahnzufahrt und ähnelt der Entwicklung, die sich seit Jahren in Großbritannien vollzieht, wo zahlreiche wirtschaftlich weniger bedeutsame Regionen inzwischen vom Bahnnetz abgekoppelt sind. Insbesondere mit Blick auf die ostdeutschen Bundesländer gilt, dass es strukturschwachen Regionen, die nur noch unzureichend an das Schienennetz angebunden sind, immer schwerer fällt, Anschluss an den Wirtschaftskreislauf zu halten. Dabei war das Schienennetz der DDR einst dichter als das in Westdeutschland.

Zwar ergibt sich aus Artikel 87e Absatz 4 des Grundgesetzes nach wie vor eine Allgemeinwohlverpflichtung des Staates im Hinblick auf den Verkehrsträger Schiene; der Statuswandel der Deutschen Bahn zur Aktiengesellschaft aber bedeutet auf lange Sicht die Abkehr von diesem Prinzip. Das von der Regierungskommission Bundesbahn, die vom damaligen Bundesverkehrsminister Friedrich Zimmermann (CSU) 1989 eingerichtet worden war, ausgearbeitete Privatisierungskonzept empfahl neben dem Wechsel der Rechtsform, dass die Bahn unabhängig von Subventionen wirtschaften solle. Dieses Ziel ist bisher nicht erreicht, denn bis ins Jahr 2008 sollen staatliche Zuschüsse von mehr als 2,5 Milliarden Euro pro Jahr fließen.

Doch die Zuwendungen der öffentlichen Hand, die das Minimum für den Erhalt des bestehenden Netzes darstellen, können nicht als Indiz für eine Neuausrichtung der Verkehrspolitik gewertet werden. Die seit Monaten ausbleibenden Einnahmen durch die Lkw-Maut lassen die der Bahn gegebenen Zusagen haltlos erscheinen. Galten Investitionen in Verkehrswege der Bahn einst als wachstumsfördernd für die Wirtschaft, werden sie nun als Subventionen betrachtet, die abgebaut werden müssen.

Die amtierende rot-grüne Koalition folgt in der Bahnpolitik konsequent dem Credo des »schlanken Staates«. Wegen der hohen Verschuldung der öffentlichen Haushalte verweigert sie die dringend notwendigen Investitionen in das Trassennetz. Nach einem Bericht der Thüringer Tageszeitung Freies Wort soll sogar Geld, das für die Bahn vorgesehen war, zum Straßenbau benutzt werden. Demnach sollen in den Bau der A 71 zehn Millionen Euro mehr investiert werden als geplant. Das Geld soll dem Etat der Bahn entnommen werden, da es von der Bahn in diesem Jahr nicht für Bauprojekte verwendet wird.

Dabei wären gerade Investitionen in Gleisanlagen und neue Züge, vor allem aber ein verbessertes Fahrplanangebot vonnöten. Dirk Flege, der Geschäftsführer des Vereins Allianz pro Schiene, dem u. a. der Bund Naturschutz, die Gewerkschaft Transnet und der Verkehrsclub Deutschland angehören, stellt fest: »So hirnfrei wird es kein staufrei geben.« Wenn sich diese Politik durchsetze, sei »Deutschland auf dem Weg in die Asphaltrepublik«.

Neben höheren Fahrpreisen gehört der Stellenabbau zur Strategie Mehdorns. Den von ihm Anfang August am Rande einer Konferenz in London angekündigten Abbau von mehr als 40 000 Arbeitsplätzen dementierte die Bahn AG zwar umgehend, es wurde aber auch betont, dass das Ziel, schwarze Zahlen zu schreiben, nicht nur durch Umsatzsteigerungen zu realisieren sei. Ein drastischer Arbeitsplatzabbau gilt dem Management des Unternehmens, das einst die höchste Zahl von Beschäftigten in Deutschland hatte, zum Zweck der Umwandlung in ein »schlankes Unternehmen« seit Jahren als unverzichtbar.

Seit 1990 wurde die Belegschaft von mehr als 480 000 Mitarbeitern auf 210 000 reduziert. Vornehmlich wird dabei das Instrument der Frühverrentung genutzt, um den Großteil der Kosten im Personalbereich an den Staat bzw. die Sozialkassen weiterzugeben. Bei einem personalintensiven Unternehmen wie der Deutschen Bahn AG sind die Sparmaßnahmen nicht nur beschäftigungspolitisch verheerend, sondern zugleich kontraproduktiv im Hinblick auf den Service und die Kundennähe.

Die Folgen dieser Geschäftspolitik sind allenthalben sichtbar. Seit Jahren findet das Verkehrswachstum primär auf dem Asphalt statt. Von 1970 bis heute wuchs der Personenverkehr auf der Straße um 134 Prozent, der auf der Schiene um nicht einmal 22 Prozent. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man meinen, die Bahn AG sei eine Tochter der deutschen Automobilindustrie.