Demokratie ist Chefsache

Politiker kritisieren die Hartz-Gegner von stefan wirner

»Wer glaubt, einen Sozialdemokraten mundtot machen zu können, der kennt die Geschichte nicht. Wir haben uns dem immer widersetzt, und das wird auch in Zukunft so sein.« So ergriffen zeigte sich Bundeskanzler Gerhard Schröder in der vorigen Woche, nachdem im brandenburgischen Wittenberge ein Demonstrant gewagt hatte, ein Ei auf ihn zu werfen. Worauf spielte Schröder an? Will er an die Nazi-Zeit erinnern? Ist sein Kampf für Hartz IV gelebter Antifaschismus?

Die Demokratie und mit ihr die so genannte Wiedervereinigung sind in Verruf geraten. Schuld sind die Ossis, die zu Zehntausenden gegen die Reformen der Bundesregierung demonstrieren und zum Teil Neonazis mitlaufen lassen. Krampfhaft versucht das politische Establishment zu erklären, was geschehen ist. Wolfgang Schäuble (CDU) etwa, der 1990 an der Ausarbeitung des so genannten Einigungsvertrags beteiligt war, sagt heute über die Wiedervereinigung das, was Oskar Lafontaine damals sagte und wofür er hart gescholten wurde. »Wir haben die Probleme unterschätzt und den Menschen nicht klar genug gesagt, dass dies ein schwieriger Weg ist«, verriet Schäuble der Berliner Zeitung.

Für diese Einsicht ist es nun zu spät, es muss gerettet werden, was noch zu retten ist: die Demokratie. Der Vorsitzende des DGB, Michael Sommer, warnt die Montagsrebellen: »Die aufrichtigen Demonstranten dürften Extremisten, ob von links- oder rechtsaußen, auch in der Zukunft nicht in ihren Reihen dulden.« Schön, dass Sommer, der nicht zu den Protesten aufruft, wenigstens bestimmt, wer daran teilnehmen darf und wer nicht, und einen Einblick in seine ganz persönliche Totalitarismustheorie gestattet.

Auch Wolfgang Thierse (SPD) belehrt die Gegner der Reformen: »Wer Eier oder Steine wirft und einen Redner nicht zu Wort kommen lässt, nimmt keine Freiheit in Anspruch, sondern schränkt demokratische Freiheit ein.« Rolf Kutzmutz, der Bundesgeschäftsführer der PDS und frühere Mitarbeiter der Stasi, hingegen sieht die Montagsdemonstrationen als »Ausdruck eines wachsenden demokratischen Selbstbewusstseins« der Ostdeutschen. Als ob man von dem wachsenden Selbstbewusstsein von Pirna über Hoyerswerda nach Rostock nicht genug hätte.

Wer ist nun der beste Demokrat? Und warum ist die Demokratie erst bedroht, wenn sich Rechtsextreme an Montagsdemonstrationen beteiligen? Marschieren sie doch jedes Wochenende durch ein anderes deutsches Kaff, ohne dass es außer ein paar Antifas jemanden kümmert.

Wozu braucht Deutschland überhaupt eine Demokratie, wenn die Politik, die die Regierenden betreiben, ohnehin »alternativlos« ist, wie Schröder, einem Mantra gleich, immer wieder betont? Hat man doch längst Gremien eingerichtet, wie die Rürup- oder Hartz-Kommission, die den Parlamentariern nur noch die ausgefeilten Reformen auf den Tisch knallen, damit diese sie in Gesetze verwandeln.

Wäre es nicht noch geschickter, man überließe die Regierungsgeschäfte gleich Michael Rogowski vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), dann müsste er seine Wünsche nicht tagtäglich im Fernsehen diktieren? Und hat Schröder nicht jede Menge Sozialdemokraten mit seinen Rücktrittsdrohungen »mundtot« gemacht, um Rogowskis Wünsche zu erfüllen?

Wer den Sozialabbau nicht hinnimmt, gefährdet die Demokratie, lautet die aktuelle Botschaft. Offenkundig wird dadurch, was diese Form der Demokratie ist: eine Herrschaftstechnik, die dazu dient, den Interessenskonflikt zwischen Unternehmern und Lohnabhängigen zu moderieren und notfalls die Interessen der erstgenannten durchzusetzen.