»Der Libanon wird zum Polizeistaat«

Walid Jumblatt

Nicht zuletzt aufgrund der Initiative Syriens stimmte Anfang September das libanesische Parlament für eine Verfassungsänderung, die Präsident Emile Lahoud eine Verlängerung seiner Amtszeit erlaubt. Auf französischen und US-amerikanischen Wunsch beschloss darauf der UN-Sicherheitsrat eine Resolution, in der die volle Unabhängigkeit des Libanon gefordert wird. Ferner verlangt die UN erstmals »den Abzug aller ausländischen Truppen« und »die Entwaffnung aller Milizen«.

Der Drusenführer Walid Jumblatt gehört zu den Oppositionellen, die gegen die Verfassungsänderung votiert haben. In Beirut traf Alfred Hackensberger den Vorsitzenden der Progressiven Sozialistischen Partei des Libanon.

Warum haben Sie gegen die Verfassungsänderung und die Verlängerung der Amtszeit von Präsident Emile Lahoud gestimmt?

Das ist ein Schritt in Richtung Polizeistaat. Der Geheimdienst spielt in vielen Bereichen eine immer größere Rolle, jeder spioniert jeden aus. Der Libanon droht zum Klon anderer arabischer Regimes zu werden. Das wollen wir nicht. Die Existenz des Libanon basiert auf kultureller Vielfalt, Demokratie und Presse- und Meinungsfreiheit.

Ein Großteil der Abgeordneten, die für die Änderung gestimmt haben, soll eigentlich dagegen gewesen sei. Warum stimmen die Leute nicht so ab, wie sie denken?

Viele Abgeordnete sind von Syrien beeinflusst. Präsident Bashar Assad sagt zu Rafik Hariri, dem libanesischen Premierminister, dass Lahoud der richtige Mann sei, und dann ist er das eben auch. Andere Abgeordnete werden von den Geheimdiensten überzeugt oder auch mit Geld; es existieren geheime Schließfächer in Banken und im Casino du Liban.

So einfach funktioniert das?

Unglücklicherweise ja.

Durch die UN-Resolution 1559 ist die Verfassungsänderung zu einem internationalen Politikum geworden.

Das ist ein großes Handicap für uns. Man könnte uns nun als Verräter, Imperialisten und amerikanische Agenten bezeichnen. Daher wollen die Leute, die dagegen gestimmt haben, mit diesen internationalen Einmischungen nichts zu tun haben.

Ob Sie wollen oder nicht, Ihre Proteste gegen die Änderung nutzen der US-amerikanischen Politik gegen Syrien.

Das ist nicht wahr. Ich habe mehrfach gesagt, dass ich nur für eine Umpositionierung der syrischen Truppen bin. Über ihre Stärke und Stellungen sollte neu nachgedacht werden. Aber es gibt berechtigte strategische Interessen, da noch kein Friedensvertrag mit Israel unterzeichnet ist. Außerdem bin ich gegen die Entwaffnung der Hisbollah und für ihr Weiterbestehen im Libanon. Das steht komplett im Widerspruch zur UN-Resolution.

In der UN-Resolution ist von »Maßnahmen zur Durchsetzung« die Rede. Sehen Sie darin eine Gefahr für den Libanon?

Es könnte zu ökonomischen Sanktionen kommen. Das alte, ungleiche Spiel eben. Wenn man fair wäre, müsste man eingestehen, dass UN-Resolutionen nicht nur gegen eine Seite angewandt werden können. Es gab hunderte von UN-Resolutionen zum israelisch-arabischen Konflikt, und nicht eine einzige wurde angewandt.

Für Syrien sind die bestehenden Sanktionen der USA ein geringes Problem. Anders wäre dies im Fall des Libanon. Die libanesische Lira ist an den Dollar gekoppelt, große Teile der inländischen Bankeinlagen sind in US-Dollar.

Ökonomische Sanktionen können für den Libanon zum großen Problem werden. Ich bin gegen jede Einmischung der USA in unsere Angelegenheiten. Aber die Syrer hätten das ganze Thema vermeiden können, indem sie die Libanesen einfach hätten frei wählen lassen.

Der maronitische Erzbischof von Beirut, Nasrallah Butors Sfeir, kritisierte jüngst, dass die syrische Regierung den Libanon wie eine ihrer Provinzen behandle.

In diesem Punkt hat er Recht. Die Syrer sollten sich nicht in jeden Aspekt der libanesischen Belange einmischen.

Dennoch befürworten Sie die Präsenz syrischer Truppen im Libanon.

Man darf nicht vergessen, dass die Israelis, als sie 1982 den Libanon besetzten, quasi vor den Toren von Damaskus standen. Die Syrer können im Libanon militärische Stellungen haben, um sich zu verteidigen. Das ist für mich kein Problem.

Sie glauben, dass nach einem Abzug syrischer Truppen die Israelis erneut den Libanon besetzen würden?

Das habe ich nicht gesagt. Aber ich darf daran erinnern, dass für die Israelis die Invasion militärisch eine einfache Unternehmung war. Jetzt haben wir eine formidable Waffe gegen Israel, und das ist die Hisbollah, die Israel schon einmal hinausgejagt hat.

Es heißt, dass die Hisbollah von Syrien mit Waffen und Geld ausgestattet wird.

Woher die Hisbollah ihr Geld oder ihre Waffen bekommt, ist nicht mein Problem. Ich weiß nur: Ich unterstütze die Hisbollah. Sie repräsentiert den Widerstand. Und das ist für mich der einzige Weg, wie wir die israelische Okkupation und die amerikanische Besatzung des Iraks beenden können.

Ist es nicht merkwürdig, dass Sie als Sozialist religiöse Bewegungen unterstützen?

Wir leben nicht in Europa, sondern im Nahen Osten. Hier gibt es andere Präferenzen. Dank der Hisbollah und der nationalen Bewegung des Libanons sind wir die Israelis losgeworden. Aber Palästina ist seit Jahren besetzt und nun auch der Irak. Im Nahen Osten gibt es dringlichere Probleme, als sich den Kopf über das Verhältnis von Religion und Sozialismus zu zerbrechen.

Mit Staatsschulden von 40 Milliarden US-Dollar gehört der Libanon zu den am meisten verschuldeten Ländern der Welt. Wie kann man aus dieser Misere kommen?

Wir haben uns zu lange auf den Tourismus und das Bankenwesen konzentriert. Das genügt nicht. Man muss andere Sektoren wie die Landwirtschaft und die Industrie stärker fördern. Auch Hightech wäre gut. Das gibt es so gut wie gar nicht im Libanon, deshalb verlassen qualifizierte Fachkräfte das Land. Ich bin für eine zentrale Planwirtschaft. Bisher hat ein wilder Kapitalismus den Libanon regiert. Vier oder fünf Prozent der Bevölkerung kontrollieren die gesamte Wirtschaft.

Ein Journalist der Tageszeitung An Nanar sagte, die wahre Regierung des Libanon sei ein Verbund von Superreichen und dem Geheimdienst.

Das ist leider richtig. Man hat die Gewerkschaften, die normalerweise ein Werkzeug für sozialen und politischen Wandel sind, neutralisiert. Dort gibt es, bis auf ganz wenige Ausnahmen, nur vom Geheimdienst installierte Marionetten.

Trotzdem gab es im Mai Demonstrationen gegen die Regierung. Im Beiruter Stadtteil Hay al-Sellom wurden fünf Menschen vom Militär erschossen, als das Arbeitsministerium angezündet wurde.

Die Leute in diesem Stadtteil kommen aus dem Bekaa-Tal und aus dem Süden. Dort hat die Regierung keinerlei Maßnahmen zur Verbesserung der ökonomischen Situation getroffen. Also kommen die Leute nach Beirut, aber hier geht es ihnen auch nicht viel besser. Hay al-Sellom ist eine völlig andere Welt.

40 Prozent der libanesischen Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Glauben Sie nicht, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis es zu weiteren sozialen Protesten kommt?

Dazu braucht es echte Gewerkschaften und Parteien, die große Bevölkerungsteile repräsentieren. Bis heute gibt es das im Libanon nicht. Politische Bewegungen sind konfessionsabhängig. Früher war das besser, als es noch eine starke Linke gab. Die Linke und die nationale arabische Bewegung haben zu Gunsten des Islam verloren, der das entstandene Vakuum gefüllt hat.

Bereitet Ihnen diese Entwicklung keine Sorgen?

Man muss die Dinge so akzeptieren, wie sie sind.