Chefsache Russland

Die deutsch-russischen Beziehungen werden immer besser. Vor allem gegen die USA richtet sich die strategische Partnerschaft. von jörg kronauer

Schweigen für Gas?« Leicht polemisch mokiert sich Roland Götz über Bundeskanzler Gerhard Schröder. Der hat kürzlich »keine empfindlichen Störungen« bei den Wahlen in Tschetschenien erkennen können, jetzt unterstützt er bedingungslos die Anti-Terror-Politik der russischen Regierung. So viel Nähe zum Kreml hat es in der deutschen Hauptstadt lange nicht gegeben. Und das alles nur, um die russischen Erdgaslieferungen nicht zu gefährden? Götz, wissenschaftlicher Mitarbeiter des think tanks Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) mit dem Schwerpunkt russische Wirtschaft, ist unangenehm berührt.

Schröder hat die Russlandpolitik zur Chefsache gemacht und eine Strategie durchgesetzt, die keineswegs unumstritten ist. In den think tanks gibt es Widerspruch, bei der Opposition ebenfalls, selbst der grüne Koalitionspartner mäkelt an des Kanzlers grenzenlos scheinender Nachgiebigkeit herum. Schröder aber besteht auf der engen Zusammenarbeit mit Russland. »Ich bin wirklich davon überzeugt, dass die größer gewordene Europäische Union gut daran tut, zu einer strategischen Partnerschaft mit Russland zu finden«, sagte er in der vergangenen Woche der FAZ. Und warum? »Ich glaube, dass Russland wichtig für uns ist«, sagte der Kanzler: »Ökonomisch und politisch.«

Die ökonomische Bedeutung Russlands für die Bundesrepublik liegt vor allem in seinen Erdöl- und Erdgasreserven. Das Land verfügt mit rund 50 000 Milliarden Kubikmetern Erdgas über etwa ein Drittel der bekannten Erdgasvorkommen weltweit. Auch das Öl fließt in Strömen; die russische Jahresproduktion erreicht fast die Fördermenge Saudi-Arabiens, des größten Erdölproduzenten und -exporteurs weltweit. Weit mehr als die Hälfte des russischen Exports besteht aus Energieträgern. Auch Deutschland, Russlands Handelspartner Nummer eins, importiert von dort hauptsächlich Öl und Gas.

Das spiele selbstverständlich eine Rolle, gibt auch der Schröder-Kritiker Götz zu. 31 Prozent seiner Erdöl- und 38 Prozent seiner Erdgasimporte habe Deutschland im vergangenen Jahr aus Russland bezogen, schreibt er in einer soeben erschienenen Stellungnahme. »Unbestreitbar ist der Anteil russischer Importe der beiden wichtigsten fossilen Energieträger (…) über den Grenzwert von 30 Prozent gestiegen, den man in der EU (…) als kritisch für die numerische Importabhängigkeit definiert hat.«

Ist die Bundesrepublik dem russischen Präsidenten Wladimir Putin wegen der Rohstoffimporte völlig ausgeliefert, muss Kanzler Schröder deshalb »schweigen für Gas«? Quatsch, meint Götz. Schließlich muss Russland seine Rohstoffe auch verkaufen, ist also abhängig von deutschem Geld. Falsche Frage, sagte schon im vergangenen Jahr Alexander Rahr, der Kollege Götz’ bei einem anderen großen außenpolitischen think tank, der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Das Problem reiche tiefer, erklärte Rahr, es berühre die Grundlagen außenpolitischer Strategie.

»Zwei Denkschulen« gebe es in der deutschen Außenpolitik, führte Rahr Ende Mai 2003 bei einem von der Commerzbank organisierten Vortrag in Berlin aus. »Die einen schwärmen vom riesigen russischen Markt und sehen Russland in einigen Jahrzehnten als Teil der westlichen Zivilisation. Die anderen betrachten Russland als traditionellen Feind des Westens.« Rahr ließ keinen Zweifel daran, was er für richtig hält: die enge Zusammenarbeit mit dem »riesigen Markt«.

An der Wirtschaftskooperation arbeitet die Bundesrepublik schon lange. Erste Erfolge brachte in den sechziger Jahren das berühmte Erdgas-Röhren-Geschäft: Die Sowjetunion lieferte den Rohstoff, nahm dafür deutsche Industrieprodukte ab. Seitdem hat man den Austausch stets erweitert. Die deutsche Seite wollte dabei vor allem einen möglichst unmittelbaren Zugriff auf die russischen Energievorräte. Nach mehreren Kooperationsprojekten im Pipelinebereich gelang im Jahr 1999 schließlich der Durchbruch: Die deutsche Wintershall AG erhielt die Erlaubnis zur Mitarbeit an der Exploration und Förderung von Erdöl und Erdgas in Russland. Somit war der direkte Zugriff auf die Rohstoffquellen erreicht.

Doch derlei Privilegien haben ihren Preis: Der Kreml fordert Gegenleistungen. Und Deutschland habe nicht genügend Druckmittel, um die Forderungen abzuwehren, bedauert Rahr. »In den neunziger Jahren haben wir es über die Schuldenpolitik versucht«, erklärte er kürzlich dem Tagesspiegel. »Doch in der Zwischenzeit ist der Schuldenberg zu einem großen Teil abgebaut.« Der Stratege von der DGAP plädiert für die Flucht nach vorn. Noch enger solle die Wirtschaftskooperation werden, forderte er im Mai vor den in Berlin versammelten Wirtschaftsvertretern: »Der konsequente Reformkurs der Regierung unter Putin und ein fortgesetztes Wirtschaftswachstum lassen Russland für westliche Anleger immer interessanter erscheinen.«

Kaum jemand packt diese Aufgabe mit so viel Energie an wie Schröder, der Genosse der Bosse. Sieben Milliarden Euro umfassten die Wirtschaftsverträge, die während des Treffens zwischen Schröder und Putin im vergangenen Herbst abgeschlossen wurden. Nicht etwa in Moskau fand das Treffen statt, sondern in Jekaterinburg, einem Zentrum der russischen Rüstungsindustrie. Denn Schröder dehnt die Wirtschaftskooperation mehr und mehr auch auf den Rüstungsbereich aus, der immer noch als Paradesektor der russischen Industrie gilt.

Diese Tatsache lässt in zahlreichen osteuropäischen Staaten die Alarmglocken läuten. Erinnerungen an das norditalienische Städtchen Rapallo werden wach. Dort begründeten das Deutsche Reich und die Sowjetunion im Jahr 1922 eine Zusammenarbeit, die später in geheime Rüstungsprogramme mündete und die Umwandlung der Reichswehr in eine Angriffsarmee erleichterte. Deren Leitung befürwortete schon damals gemeinsame Militäraktionen mit der Sowjetunion, um Polen zu liquidieren und die deutsche Ostgrenze von 1914 wiederherzustellen.

Auch wenn die militärische Liquidierung Polens natürlich nicht auf der Tagesordnung steht, nehmen polnische Außenpolitiker das deutsch-russische Bündnis als langfristige Bedrohung wahr. Die Angst, zwischen den zwei Großmächten aufgerieben zu werden, sitzt tief und treibt die polnische Regierung an die Seite der USA. Die Vereinigten Staaten wiederum sind der eigentliche Adressat der engen Zusammenarbeit zwischen Schröder und Putin. Das stellte Rahr schon im vergangenen Jahr fest: »Langfristig bleiben (…) Russland und die USA weltpolitische Rivalen – die EU und Russland nicht.«

Politisch wichtig sei die »strategische Partnerschaft mit Russland«, sagte Gerhard Schröder der FAZ. Das Bündnis gegen die USA, ansatzweise erprobt während des Irakkriegs, scheint für den Sozialdemokraten eine langfristige Option zu sein. Das geht selbst Rahr inzwischen zu weit. Der Kanzler dürfe »seine ostmitteleuropäischen Nachbarn und die USA nicht durch eine zu heftige deutsch-russische Liebschaft verschrecken«, warnte er in der Zeitschrift Internationale Politik.

Die tschetschenischen Separatisten jedenfalls, zu denen die Berliner Außenpolitik bislang gute Kontakte pflegt (Jungle World 28/04), dürften in der nächsten Zeit weniger Unterstützung durch die deutschen Apparate erhalten. »Schweigen für Gas?« Das nicht – aber für die strategische Partnerschaft gegen die USA vielleicht schon.