Die Politik der leeren Kassen

In der Schweiz protestieren Angestellte des öffentlichen Dienstes gegen Stellenstreichungen und Sozialabbau. von yves kramer, zürich

Uns geht die Luft aus«, verkündete das Pflegepersonal in St. Gallen am Donnerstag vergangener Woche und stellte selbst gebastelte »Luft-Tankstellen« vor dem Kantonsspital auf. Gleichzeitig verteilten Zollbeamte an Grenzübergängen Butterhörnchen, trafen sich Staatsangestellte in Bern zu einer Protestpause, und Lehrer und Polizisten legten ihre Arbeit für einen halben Tag nieder, um zu Protestaktionen auf die Straße zu gehen.

Etwa 10 000 Angestellte des öffentlichen Dienstes beteiligten sich an diesem Tag an dezentralen Aktionen gegen die Sparpolitik beim Service Public. Christine Goll, die Präsidentin des Personalverbands öffentlicher Dienste, sprach von einem »historischen Tag«. Denn erstmals riefen 17 Gewerkschaften und Personalverbände mit 330 000 Mitgliedern gemeinsam zum Protest gegen die Abbaupläne im öffentlichen Dienst auf. »Die Zeit der gemäßigten Staatsangestellten ist vorbei. Jetzt reicht’s!«, lautete die Botschaft der Protestierenden. Der Service Public soll nicht länger den bürgerlichen Sparpolitikern als Spielball überlassen werden.

Auslöser der Proteste sind die Pläne der Regierungen auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene, unter dem Deckmantel von so genannten Sanierungsprogrammen, Entlastungsmaßnahmen oder Aufgabenverzichtsplanungen weitreichend staatliches Personal und soziale Leistungen abzubauen. Mit den Abbauprogrammen sollen in den nächsten vier Jahren sechs Milliarden Euro eingespart und 20 000 Stellen gestrichen werden. Der vorgesehene Abbau werde schmerzhafte Einschnitte bei der Gesundheitsversorgung, der Bildung, dem Sozialwesen und dem öffentlichen Verkehr zur Folge haben, zudem werde der ohnehin angespannte Arbeitsmarkt weiter belastet, kritisieren die 17 Gewerkschaften und Verbände in einem gemeinsamen Manifest.

Die Schweiz weist zurzeit eine Erwerbslosenquote von 3,9 Prozent auf. Nicht mitgezählt werden in der Statistik die Langzeiterwerbslosen, die von Sozialhilfe abhängig sind. Die Sozialhilfekosten haben in den vergangenen Jahren in allen Schweizer Städten massiv zugenommen und die öffentlichen Haushalte zusätzlich unter Druck gesetzt.

Das eigentliche Problem ist aber die so genannte Politik der leeren Kassen. Sie bedeutet, dass mittels Steuergeschenken der Staat »ausgehungert« werden soll, um einen umfassenden Spardruck zu erzeugen. Doris Schüepp vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund konstatiert für den Westschweizer Kanton Waadt, dass diesem durch Steuererleichterungen seit 1987 rund 2,5 Milliarden Euro entgangen seien. Auch anderenorts profitieren die gut Verdienenden von Steuerprivilegien. So liegt beispielsweise in der Gemeinde Freienbach im Kanton Schwyz der Steuersatz für eine ledige Person mit einem Jahreseinkommen von einer Million Euro unter dem Niveau, das für ein jährliches Einkommen von 30 000 Euro in Basel oder Luzern gilt.

Unter den Vorzeichen des Neoliberalismus haben alle Bereiche der öffentlichen Dienste ein schwieriges Jahrzehnt hinter sich. »In den neunziger Jahren gab es eine Phase in der selbst Linke und Grüne auf diesen Zug aufsprangen«, schreibt Johannes Wartenweiler in der linken schweizerischen Wochenzeitung WOZ. Höhepunkt war die Teilprivatisierung der staatlichen Telefongesellschaft.

Neuerdings machen sich Linke und Grüne für ein flächendeckendes Netz von Poststellen auch in entlegenen Bergregionen stark. Mit 50,2 Prozent Nein-Stimmen scheiterte das Referendum »Postdienste für alle« am Wochenende allerdings äußerst knapp. Eine knappe Mehrheit sprach sich hingegen – im fünften Anlauf – für einen minimalen Mutterschaftsurlaub von 14 Wochen nach Geburt des Kindes bei 80 Prozent des Lohns aus.