Hinterm Horizont geht’s weiter

Perspektive der Proteste von winfried rust

Was ändern die Demonstrationen gegen Hartz IV? Völlig unbeeindruckt von den Protesten pöbeln Michael Rogowski vom Bundesverband der Deutschen Industrie und Bundeskanzler Gerhard Schröder weiter gegen das Sozialsystem und die Leistungsempfänger. Echten Nutzen scheint ein Menschenauflauf nur dann zu haben, wenn danach alles in Schutt und Asche liegt, wie damals an der Bastille.

Das ist für die Demonstrationen am 2. Oktober in Berlin und am 6. November in Nürnberg nicht zu erwarten. Aber es lohnt sich zu betrachten, inwieweit die beiden Umzüge im Zusammenhang mit einer sozialen Bewegung stehen könnten, die über einen radikalen Inhalt – und das kann im Zusammenhang mit Hartz IV nur der Kampf gegen die Arbeit sein – zu wirksamen Formen findet.

Doch zuerst die kritischen Fragen. Was ist noch schlimmer als Deutsche, die den Sozialabbau hinnehmen? Vielleicht aktive Deutsche, die rufen: »Wir sind das Volk!« Die Proteste gegen Hartz IV glichen einem nation building als Opfergemeinde und stützen die kriselnde Arbeitsgesellschaft eher noch mit ihrem Betteln nach Arbeit. Am kommenden Samstag demonstrieren die Gegner von Hartz IV in Berlin unter anderem für »60 Milliarden Euro sofort für Jobs zu menschenwürdigen Löhnen«, wie es in dem gemeinsamen Aufruf von Attac Deutschland, diversen Gewerkschaftern, Erwerbsloseninitiativen und PDS-Mitgliedern heißt.

So demonstrieren Demonstrationen Ratlosigkeit. Woher sollen die Jobs kommen? Die Produktion benötigt immer weniger Arbeitskraft, der Lebensunterhalt aber bleibt mit einem Arbeitsplatz verknüpft. Sinnvoll wäre es, diese Verknüpfung aufzuheben und die Arbeit per se als Unterwerfung unter die kapitalistische Warenproduktion zu kritisieren.

Aber wenn es die Proteste nicht gäbe, wäre es auch nicht besser. Lange genug wurden alle sozialpolitischen Rückschritte in Deutschland still erduldet. Die Arbeitsmarktreformen führten immerhin dazu, dass der Unmut öfentlich gezeigt wurde. Die Frage ist, was sich in diesem Segment an neuen Widersprüchen abzeichnet.

Die geringere Arbeitslosenhilfe bringt die bisherigen Arbeitslosen aus der Mittelschicht an die Grenze der Armut und vergrößert die Einkommensunterschiede in der Gesellschaft. Der vorgesehene Arbeitszwang für viele Ein-Euro-Jobber, von dem die Verdi-Zeitschrift Publik berichtet, wird die Löhne im unteren Drittel senken. Die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Katrin Göring-Eckardt, findet, Arbeitslosigkeit sei »entwürdigender« als Ein-Euro-Pflichtarbeitsprogramme. Von der Politikfähigkeit zum Zynismus ist der Weg offenbar nicht weit.

Die Berliner Demonstration fordert auch ein »bedingungsloses Grundeinkommen« für alle. Mit viel gutem Willen lässt sich das arbeitskritisch interpretieren. Die revolutionären Gruppen in Berlin und Nürnberg hingegen fordern »Alles für Alle«. Wegdemonstrieren aber lässt sich der Kapitalismus sicher nicht.

Man wird dem Kapitalismus weiter mit den Mitteln und Menschen zu Leibe rücken müssen, die da sind, und darauf setzen müssen, dass sich die Akteure radikalisieren. Dazu werden auch in Zukunft die eine oder andere Demonstration gehören und: Basisinitiativen, Vernetzung, autonome Gewerkschaftsgruppen, Erwerbsloseninitiativen, ziviler Ungehorsam. Wenn man in der Arbeitsgesellschaft ausgerechnet der Arbeit den Kampf ansagt, hat man eben viel zu tun.