Der Istanbul-München-Express

Von Europa träumt man in der Türkei schon lange. Doch ein EU-Betritt wird die Krise nicht beenden. von ertugrul kürkçü

Soll die Türkei der Europäischen Union beitreten? Vor drei Jahren, auf dem Rückweg von einer Veranstaltung, die der europäisch-türkische Parlamentsausschuss in Istanbul organisiert hatte, richtete ich diese Frage an den Taxifahrer, der mich nach Hause brachte. »Wenn wir dieser EU beitreten«, fragte er zurück, »werde ich dann in Istanbul einen Fahrgast aufnehmen und ihn schnurstracks nach München bringen können?« Als er »vermutlich ja« zur Antwort bekam, sagte er: »Wenn das so ist, bin ich dafür. Wir sollten beitreten, damit sich für uns neue Arbeitsgebiete eröffnen.«

Ob der Taxifahrer von der am 6. Oktober veröffentlichten »Empfehlung der Europäischen Kommission zu den Fortschritten der Türkei auf dem Weg zum Beitritt« erfahren hat? Hat er bemerkt, dass die EU-Kommission »im Hinblick auf die Freizügigkeit der Arbeitnehmer« vorschlägt, »unbefristete Schutzklauseln in Betracht zu ziehen«? Spätestens jetzt könnte er wissen, dass das »neue Arbeitsgebiet« auf der Linie Istanbul-München für ihn ein Traum bleiben wird. Doch selbst wenn er von dieser Empfehlung gehört hat, spricht alle Wahrscheinlichkeit dafür, dass er an seinem Traum unbeirrt festhält.

Denn einen europäischen Traum haben die Menschen der Türkei schon immer geträumt. Dieser Traum erschöpft sich nicht in der Aussicht auf Lohn und Brot. Nach der Eroberung Istanbuls träumten die Osmanen davon, ihr Reich in Richtung Westen auszudehnen, immer mehr europäischen Boden in ihre Gewalt zu bringen, Beute zu machen und Steuern aus diesen Gebieten zu kassieren. Mit der Niederlage der osmanischen Truppen vor den Toren Wiens wandelte sich dieser Traum. Von nun an war Europa für die osmanischen Eliten nicht länger das Objekt ihrer Expansionsgelüste, sondern wurde zur Orientierung für ihre Modernisierungswünsche. Die Übernahme der Institutionen und der Lebensweise des modernen Europa galt fortan als conditio sine qua non des internationalen Konkurrenzkampfes. Selbst als die republikanischen Eliten, die aus den Reihen der Armee und Bürokratie des untergegangenen Osmanischen Reiches kamen, dazu gezwungen waren, gegen die Besatzung durch die Siegermächte des Ersten Weltkrieges zu kämpfen, blieben sie ihrer Vision treu, Teil der westlichen Zivilisation zu werden. Die politischen und ökonomischen Mechanismen sowie der Lebensstil der heutigen Türkei sind größtenteils Resultate dieser autoritären Übertragung der europäischen Moderne auf die Fundamente einer türkisch-islamischen Kultur.

Europa aber war nicht nur Gegenstand von Träumen, sondern ebenso von Alpträumen. Die nationalistischen Eliten der Türkei wussten aus eigener Erfahrung, dass die Parole des deutschen Imperialismus, der »Drang nach Osten« (deutsch im Original; d.Ü.), eine französische, englische und italienische Entsprechung besaß. Sie vergaßen nicht, dass Kleinasien und Istanbul zwischen 1918 und 1922 von Frankreich, Italien, Großbritannien und Griechenland besetzt und sie selbst keiner anderen Existenz für würdig befunden worden waren, als einen entmilitarisierten und mittellosen Zwergstaat in der anatolischen Steppe zu verwalten. Nachdem es ihnen mit eiserner Faust gelang, einen Rest des osmanischen Staatsgebietes und seiner Bevölkerung mit autoritären Methoden wieder zu vereinen, wähnten sie sich im permanenten Kampf gegen neue Gefahren von außen. Hinter jedem Zweifel an ihrer Republik, jeder Rebellion, jeder Kritik vermuteten sie verdeckte ausländische Okkupationsversuche. Europa, die Summe aller Ausländer, blieb ein Traum, wurde aber zugleich zu einem unaufhörlichen Alptraum, der sich von einem atavistischen Misstrauen nährte, das als Erbe der Besatzung überdauerte.

Mit dem Kalten Krieg rückte dieser Alptraum in den Hintergrund. Ein halbes Jahrhundert lang lebten die militärischen und bürokratischen Eliten tagaus, tagein mit der Gefahr (oder der paranoiden Vorstellung), ihre sowjetischen Nachbarn könnten das Land okkupieren. Die militärische Partnerschaft in der Nato, die zunehmende Zusammenarbeit in Industrie und Handel mit den europäischen Staaten, die in den sechziger Jahren einsetzende Arbeitsmigration, in deren Folge inzwischen drei Millionen Menschen türkischer Herkunft in Europa leben, die nach wie vor beträchtliche Devisen in die Türkei transferieren – all dies ließ eine greifbare Verbindung zwischen dem europäischen Traum und der türkischen Realität entstehen.

Hätte sich die Welt nicht unter dem Druck der Globalisierung rasant zu ändern begonnen, die Türkei wäre wohl weiterhin das geblieben, was sie über Jahrzehnte hinweg war: eine Demokratie unterhalb des Standards, ein Land am Rande Europas, das Textilien, Obst und Gemüse sowie Arbeiter exportierte und Touristen, Waffen, Maschinen importierte und dieses Dasein als Verwirklichung seines Traums von Europa wertete. Hätte der Kalte Krieg fortgewirkt und wäre die Sowjetunion nicht zusammengebrochen, hätte die Globalisierung nicht neue Blockbildungen hervorgerufen – wir wissen nicht, wie lange das so weiter gegangen wäre. Aber aller Vermutung nach wäre die Türkei auf ihrem Weg zwischen der Paranoia vor einer sowjetischen Okkupation und dem europäischen Traum weitergestolpert und hätte dies als kontinuierliche Entwicklungsgeschichte gesehen.

Aber seit Turgut Özal 1987 in Brüssel den Antrag auf eine Vollmitgliedschaft im europäischen Club einreichte und damit den Willen zum Ausdruck brachte, bei der neuen globalen Blockbildung auf Seiten Europas zu stehen, ist die Europäische Union nicht länger ein Traum, der sich mal zeigt und sofort wieder verflüchtigt, sondern sie kennzeichnet das Leben im Land. In Europa hingegen tut man sich schwer mit der Aussicht, dass Menschen aus einem Land, die der gewöhnliche Europäer noch vor kurzem nicht von Arabern, Persern und Afrikanern zu unterscheiden vermochte, bald in ihren Institutionen, ihrem Leben, ihrer Kultur mitreden und mitbestimmen sollen. Eine Aussicht, die den meisten Europäern, wenn nicht als Alptraum, so doch als fremd, unbestimmt und zweifelhaft erscheint.

Die Türkei wäre wohl längst in die EU aufgenommen worden, gäbe es da nicht die widersprüchlichen Interessen und Orientierungen der türkischen und der europäischen Gesellschaften zu berücksichtigen. Denn unter den Bedingungen einer weltweiten Krise des Kapitalismus muss eine erweiterte Europäische Union mit den USA, Russland und China um Einfluss und Kontrolle konkurrieren, nicht zuletzt auch über Energievorkommen des Nahen und Mittleren Ostens. Wegen ihrer strategischen Lage steht die Türkei im Mittelpunkt des europäischen Interesses.

Dem türkischen Kapital und dem türkischen Staat wiederum erscheint der Beitritt zur EU und der damit verbundene wirtschaftliche und technologische Austausch als einziger Weg, die sich unter dem Eindruck der globalen Krise verschärfende Strukturkrise des Landes zu überwinden. Deswegen stimmen Tayyip Erdogan, Gerhard Schröder und Silvio Berlusconi überein, dass die Türkei der Europäischen Union beitreten solle. Aber für die Muslime in der Türkei, die Katholiken und Protestanten in Deutschland, sowie die Anglikaner in England ist die Diskussion viel komplexer.

Doch auch mit einem Beitritt blieben die eigentlichen Fragen unbeantwortet: Wird der globale Kapitalismus, der an seine natürlichen und historischen Grenzen stößt, tatsächlich seine Krise überwinden können? Wird es der EU unter diesen Krisenbedingungen und den Herausforderungen durch die Vereinigten Staaten, China und Russland gelingen, für 300 Millionen glückliche Menschen eine krisenfreie Zone zu schaffen? Wird die Türkei in einem krisenhaften, aber größeren Zusammenhang ihre heutige gesellschaftliche Ordnung wahren können?

Wollen wir hoffen, dass es nicht zu spät ist für die Einsicht, dass der Traum von Wohlstand und Harmonie innerhalb der europäischen Festungsmauern nichts anderes als der Versuch ist, die Ausweglosigkeit des Kapitalismus zu verdrängen und die Augen vor der unmenschlichen Wirklichkeit zu schließen. Jenen, die inmitten der Sturmwirbel, die weltweit den Kapitalismus erfasst haben, glauben, dass eine Mitgliedschaft in der EU sie gleich Noahs Arche heil durch Stürme gleiten lassen wird, und den Tayyip Erdogans, die auf dem Schwarzmarkt ein Ticket für das vermeintlich rettende Schiff zu ergattern versuchen, gibt es nur eins zu sagen: Die Flut ist wirklich, die Arche Noah aber ist nur eine Legende.

Ertugrul Kürkçü gehörte zu den Köpfen der 68er-Bewegung in der Türkei und war Mitgründer der militanten Organisation THKP-C. 1972 überlebte er als einziger das Massaker von Kizildere, wurde zum Tode verurteilt, dann begnadigt und verbrachte 14 Jahre im Gefängnis. Heute ist er Koordinator des Nachrichtenportals bianet.org und Mitherausgeber der Zeitschrift Siyasi Gazete. Die Übersetzung besorgte Deniz Yücel.