Gegen das Spektakel

Das Wiener Filmfestival Viennale ehrt Danièle Huillet und Jean-Marie Straub mit einer Werkschau. Eine Auswahl von John Fords Filmen ist auch zu sehen. von peter grabher

Arbeit am Gedächtnis: Man muss in dieser Retrospektive sitzen, um in der »Einleitung zu Arnold Schönbergs Begleitmusik zu einer Lichtspielscene«, einem kurzen Film von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet von 1972, zu erfahren, dass im selben Jahr, in dem der Film entstanden ist, in Wien zwei Architekten des KZ Auschwitz »mangels an Beweisen« freigesprochen wurden. Niemand kennt hier dieses Datum, es gibt keinen Film darüber in Österreich.

Das Werk Straubs/Huillets zitiert auch einen Brief Schönbergs an Kandinsky aus dem Jahr 1923, in dem er es aufgrund seiner Erfahrung mit dem deutschen Antisemitismus ablehnt, ans Bauhaus nach Weimar berufen zu werden. Den Text des Briefes liest im Film der Wiener Günter Peter Straschek, der Autor des zornigen und verschollenen »Handbuchs wider das Kino«. Der kurze Film evoziert die Erinnerung an die Shoah und geht weiter, vor und zurück: Er fügt durch Schwarzkader isolierte Bilder eines abhebenden B52-Bombers und eine Fotografie von ermordeten KommunardInnen hinzu. Die Frage nach dem Zusammenhang von Faschismus und Kapitalismus ist gestellt in diesem Film, den Straub »unseren aggressivsten« nannte.

Seit Jahren präsentiert die Viennale politisches Filmschaffen der sechziger und siebziger Jahre. Bis heute sind die Arbeiten der Generation von Godard, Gorin, Varda, Solanas unverzichtbarer Bestandteil des Weltkinos. Dieser Tradition entspricht es, dass das Festival heuer Danièle Huillet und Jean-Marie Straub eine Werkschau im Wiener Filmmuseum widmet. Die beiden kompromisslosen Filmemacher haben seit 1962 ein Werk von etwas mehr als zwanzig Filmen erarbeitet und der Welt abgetrotzt. »Wir sind Filmtiere«, sagen Straub und Huillet.

Jean-Pierre Gorin, dessen kleines aber aufregendes Œuvre ebenfalls in Wien gezeigt wird, erzählt, wie er Ende der Sechziger Jahre in einem Pariser Kino Straubs und Huillets ersten Langfilm »Nicht versöhnt oder: Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht« sah, eine kristalline Studie über das sich wiederbewaffnende Nachkriegsdeutschland nach Heinrich Bölls Roman »Billard um halbzehn«: »Ich konnte nicht Deutsch und sah den Film ohne Untertitel. Am Ende des Filmes war ich vollkommen überzeugt, jedes Wort zu verstehen. Ich dachte mir, es ist ungeheuer, dass ein Medium einen solchen Effekt erzielen kann, und beschloss, Filmemacher zu werden.« Die Filme, die Jean-Pierre Gorin dann zusammen mit Jean-Luc Godard unter dem Label der »Groupe Dziga Vertov« fabrizierte, wie »Vent d’Est« oder »Vladimir et Rosa«, bearbeiteten die linke Rhetorik und Ikonographie ironisch. Sie sind ganz Pop, während sich in den Filmen Straubs und Huillets nicht eine Spur von Pop findet. Gemeinsam ist ihren Filmen die bewusste und ununterbrochene Arbeit an der Form und dass sie heute sehr frei wirken und vollkommen autonom gegenüber den Forderungen der Kulturindustrie. Jean-Luc Godard sagte: »Massenkunst ist eine Erfindung der Kapitalisten.« Auch Jean-Marie Straub äußerte sich gelegentlich unverblümt zum Kino-Mainstream: »Das ist wie Scheiße auf einer Plastikfolie.«

Die Retrospektive der Filme von Straub/ Huillet ermöglicht eine intensive Zusammenschau, unmerklich treten die radikalen Vergegenwärtigungen, die jeder der Filme von Straub/Huillet leistet, zueinander in Bezug: die mythische Erinnerung an die Abschaffung des Menschenopfers (»Von der Wolke zum Widerstand«, nach Cesare Pavese), die alttestamentarische Erinnerung an den Bilderstreit zwischem dem Gesetz und dem goldenen Kalb (»Moses und Aron«, nach Arnold Schönberg), die Erinnerung an die Kämpfe gegen Sklaverei und Leibeigenschaft (»Geschichtsunterricht«, nach Bertolt Brecht), die Erinnerung an die schreiende Armut der Bauern im 19. Jahrhundert (»Zu früh, zu spät«, nach Friedrich Engels und Mahmoud Hussein) und immer wieder die Erinnerung an den Widerstand, an die französische Revolution (»Der Tod des Empedokles«, nach Hölderlin), die Pariser Commune (»Begleitmusik zu einer Lichtspielscene«, nach Schönberg), den antifaschistischen Kampf der PartisanInnen (»Sicilia!« und »Arbeiter, Bauern«, nach Vittorini).

Mit dem Kino ist etwas in die Welt gekommen, das Spektakel, gegen welches Straub/Huillet mit den Mitteln des Kinos arbeiten. »Nur wer Lust hat zu widerstehen, kann gute Filme machen«, sagt Straub in Wien, und dass »Straub« mit »sich sträuben« zu tun habe. Außerdem: »Es gibt heute nur noch wenige freie Menschen.« Jean-Marie Straub und Danièle Huillet machen Kino für freie Menschen. Die illusionäre Maschine des Kinos wird angehalten, suspendiert werden die eingeschliffenen Tricks, der Populismus der Identifikation, die stereotype Narration, die uns immer schon wissen lässt, wie ein Film auszusehen hat, die unsere Wahrnehmung und unsere Wünsche präformiert. Während die meisten Filme die ZuseherInnen quasi aufs Gleis stellen – man hält sich fest, lässt es mit sich geschehen, genießt konsumierend –, sind Straub und Huillet Wegelagerer, die den Kino-Zug (auch den sowjetischen) zum Entgleisen bringen. Die ZuschauerInnen steigen aus, gehen irritiert in der Landschaft herum. Der sinnliche Schock und der Ärger, den die Filme des Duos vielfach auslösen, rührt daher, dass sie das Publikum nicht als konsumierende Masse verstehen. Die Zuschauer werden plötzlich in die Freiheit entlassen. Die Arbeit von Straub und Huillet ist Arbeit an einer nicht faschistischen Sensibilität.

Ungewöhnlich und aufregend ist, dass in Wien die Arbeiten Straubs/Huillets gemeinsam mit Filmen des immer wieder als reaktionär verkannten John Ford gezeigt werden. Auf die Frage, was nicht faschistischer Film sei, antwortet Straub während einer Panel-Diskussion mit Hartmut Bitomsky, Tag Gallagher und Jean-Pierre Gorin: »John Ford«. Dessen Idee eines mythischen Amerikas, seine Inszenierungen einer republikanischen Gesellschaft, die sich darüber konstituiert, dass sie sich beständig an der Spannung zwischen Recht und Gerechtigkeit abarbeitet, ist bei weitem nicht allein mit dem Hinweis auf Fords Katholizismus abzutun. Tag Gallagher, Autor eines Standardwerks zu dem Regisseur, meinte in Wien, als US-Amerikaner schäme er sich gegenwärtig oft, könne aber wieder in den Spiegel sehen, wenn er an Fords Filme denke.

In »Ein Besuch im Louvre«, dem letzten Film von Straub und Huillet, wird das Kino gleichsam von der Malerei gekapert. Er zeigt starre Aufnahmen von Bildern aus dem Louvre, während Julie Koltai einen von Joachim Gasquet überlieferten Text Cézannes liest, einen beherzten und unakademischen Kommentar zur Nike von Samothrake, zu Bildern von italienischen (Tintoretto, Veronese) und französischen Malern (Delacroix, Courbet). Der Gang durchs Museum ist ein Gang von Tintorettos idealer, fiebriger Malerei des Himmels zu Courbet, dem Maler der Commune, dem Maler der Erde. Die Serie der Gemälde und Skulpturen wird unterbrochen durch Blicke aus dem Museum und eingerahmt von Einstellungen, in welchen sich die Kamera in einem sonnendurchfluteten Wald umsieht: Von hier stammt das Material der Farben und der Bilder-Rahmen. Der Film ist keine »Schule des Sehens« – dazu sind Straub und Huillet aller Pädagogik gegenüber viel zu skeptisch –, aber er öffnet Augen und Ohren. Er scheint – und vielleicht gilt das auch für andere Filme von Straub/Huillet – einen Blick aus dem späten 19. Jahrhundert auf das spektakuläre und katastrophale 20. Jahrhundert zu werfen. Während des Abspanns hört man eine Kantate von Johann Sebastian Bach: »Ein unbegreiflich Licht erfüllt den ganzen Kreis der Erden.« Danièle Huillet schrieb vor zehn Jahren in einem Entwurf zu diesem Filmprojekt: »Wir werden wieder sehen müssen, besser sehen, wirklich sehen, Leinwände, die wir nicht kennen, und Cézanne wird uns dabei helfen, mit seinem durchdringenden Blick.« In einer Welt, in der Bilder hergestellt werden, um als Waffen Seelen zu verletzen, ist Straub/Huillets konzentrierte Bewegung zur Malerei hin eine entschieden politische Tat.

Viennale (Hg.): Die Früchte des Zorns und der Zärtlichkeit. Werkschau Danièle Huillet / Jean-Marie Straub und ausgewählte Filme von John Ford. Wien 2004