Phantasma Weltregierung

Kerry oder Bush? Wie nie zuvor bei einer amerikanischen Präsidentenwahl starrt die ganze Welt gebannt auf den Ausgang dieses Duells – als hinge davon das Schicksal der Menschheit ab. von richard herzinger

Auf zahllosen Wahlpartys rund um den Globus wird am 2. November gefiebert, gezittert und gezetert werden. Noch nie war die Polarisierung so groß, in der US-Gesellschaft selbst ebenso wie im Ausland, und nie zuvor ist einer Präsidentenwahl in den USA eine solche globale Bedeutung zugeschrieben worden. Es herrscht eine Mischung aus medial geschürter Sensations- und Erregungslust und, vor allem auf der Seite der Bush-Gegner, welthistorischer Endzeit- und Entscheidungsstimmung. Das Event: ein bisschen Apokalypse, ein bisschen Gesellschaftsspiel (es darf gewettet werden …). In den USA ist die Gesellschaft gespalten; die Auseinandersetzung droht dort die Dimension eines geistig-kulturellen Bürgerkriegs anzunehmen. Im Rest der Welt dagegen stellen die Bush-Verächter und -Hasser zweifellos die erdrückende Mehrheit dar.

Namentlich viele Europäer haben den demokratischen Kandidaten zur multilateralistischen Lichtgestalt erhoben. Mit ihm, glaubt man, würden die vermeintlich ach so guten alten Zeiten der transatlantischen Zusammenarbeit und friedfertigen Lösung von Weltkonflikten zurückkehren. Tatsächlich aber würde sich an den globalen Verhältnissen nur wenig ändern, zöge statt des Buhmanns George W. Bush der Hoffnungsträger eines »besseren Amerika« ins Weiße Haus ein.

Kerry hat zwar versprochen, bei der Stabilisierung des Irak und im Krieg gegen den Terrrorismus alles besser zu machen als die Bush-Regierung – wie seine alternativen Pläne konkret aussehen, hat er jedoch nicht deutlich machen können. Fest dürfte stehen: Die Option eines raschen Abzugs aus dem Irak ist dem Demokraten im Falle seines Wahlsiegs noch strikter verbaut als dem amtierenden Präsidenten. Denn Kerry kann seine Amtszeit unmöglich mit dem Eingeständnis einer amerikanischen Niederlage beginnen, die noch weit verheerendere Auswirkungen haben könnte als der verlorene Vietnamkrieg.

Entgegen einer besonders in Europa gerne gehegten Zwangsvorstellung sind die Massenmörder von al-Qaida ja keineswegs deshalb so aggressiv und blutrünstig geworden, weil sie sich über den einen oder anderen Verstoß Bushs gegen das Völkerrecht geärgert hätten. Der Aufstieg des al-Qaida-Netzwerks hat bereits in der Ära Clinton begonnen, und auch die Planungen für den 11. September waren längst vor Bushs Präsidentschaft angelaufen. Das Ziel der Terroristen ist nicht die Einsetzung eines rechtstreuen und dialogbereiten US-Präsidenten, sondern die Errichtung der islamistischen Weltherrschaft. Vergessen wird im hitzigen Anti-Bush-Diskurs auch gerne, dass es Bill Clinton war, der zuerst die Parole vom »Regime change« im Irak ausgegeben hatte, und dass die maßgeblichen außenpolitischen Experten der Demokraten – wie auch Kerry selbst – den Krieg gegen Saddam Hussein für unvermeidlich gehalten haben.

Die außenpolitische Doktrin Kerrys unterscheidet sich denn auch nicht grundsätzlich von der Bushs. Auch Kerry betont, dass sich die USA unilaterales Handeln vorbehalten werden, wenn sie ihre Sicherheit bedroht sehen. Umgekehrt ist die amtierende Administration längst wieder auf die vertrauten Pfade multilateraler Kooperationsbereitschaft zurückgekehrt. Sowohl in der Sudan- als auch in der Iran-Frage halten die USA penibel den Weg der Rückversicherung über die UN ein. Jetzt zeigt sich freilich, dass es mit der multilateralen Handlungsbereitschaft der Europäer gar nicht allzu weit her ist. Kofi Annan versuchte vergeblich, eine internationale UN-Truppe zum Schutz der Wahlvorbereitungen im Irak zusammenzustellen, und in der Auseinandersetzung über die iranische Atomaufrüstung wollten die Europäer das Regime in Teheran lieber noch ein wenig zum Nachgeben zu überreden versuchen, statt den Fall gemeinsam mit den USA vor den UN-Sicherheitsrat zu bringen.

Der Grundkonflikt zwischen Amerikanern und Europäern in weltpolitischen Strategiefragen wird sich nicht auflösen, wenn unter einem neuen Präsidenten die mentale Chemie mit den europäischen Staatenlenkern wieder stimmt. Er liegt tiefer begründet, nämlich in einer extrem unterschiedlichen Einschätzung von Bedrohungspotenzialen und in divergierenden geopolitischen und ökonomischen Interessen. Dass das Schisma nicht nur an Personen hängt, gilt auch für andere Bereiche, etwa für die zunehmende weltwirtschaftliche Konkurrenz zwischen Amerika und Europa. Manches deutet darauf hin, dass die Wirtschaftspolitik Kerrys noch protektionistischer ausgelegt sein wird als die Bushs. Unter diesen Umständen wird es seinem Ruf in Europa schon bald nicht mehr viel nutzen, dass er sich bei den Europäern mit seiner Unterschrift unters Kyoto-Protokoll beliebt machen will.

Wie auch immer: Für die Europäer ist John Kerry, egal was er in Zukunft tun oder lassen wird, gegenwärtig nun einmal der Mr. Feelgood dieser welthistorischen Stunde. Alles ist besser als eine zweite Amtszeit von George W. Bush, lautet die eingängige Bauchgefühlsformel, auf die sich, von ganz links bis ganz rechts, all jene geeinigt haben, die Amerikas Macht fürchten oder das Land um seine Macht beneiden. Bush, der keinen politischen und psychologischen Missgriff ausgelassen hat, um diese Antipathie zu verstärken, ist die ideale Projektionsfigur, auf die alle oberflächlichen und tiefgründigen Abwehrreflexe gegen die vermeintliche amerikanische Allmacht gerichtet werden können.

Dabei offenbaren sich in der Fixierung auf Amerika seit jeher tiefgreifende Ambivalenzen. Amerika steht für alles, was modern, überlegen, dynamisch, unangreifbar ist. Aus der staunenden Bewunderung entsteht freilich leicht ein Minderwertigkeitskomplex, der aggressiv abgearbeitet wird. Dann muss Amerika als Projektionsfläche für alle negativen Eigenschaften herhalten: Amerika sei machtbesessen, brutal, korrupt, ignorant, dumm geldgierig, und so weiter. Auf den großen übermächtigen Vater können diese bösen Projektionen bedenkenlos gerichtet werden, weil er in der Fantasie der Projizierenden grundsätzlich als unverletzlich erscheint. Gleichzeitig aber blüht die Sehnsucht, der gehasste Big Daddy möge sich über Nacht (wieder) in einen guten Papa verwandeln und die eigenen kindlichen Wünsche erraten und erfüllen. Ob bewundert oder verdammt, in jedem Fall bleibt Amerika in der Rolle des alles bestimmenden, alles beherrschenden Giganten.

Doch statt vor einer ungebremsten amerikanischen Hegemonie zu erschaudern, sollten die Europäer sich realistischerweise lieber darüber Sorgen machen, was wohl aus ihrer Freiheit würde, wenn die hegemoniale Kraft der USA tatsächlich schrumpfen sollte. Der irakische Schlamassel wie auch die Tatsache, dass die Theokraten in Teheran sich nicht vom Bau einer Atombombe abhalten lassen, zeigen ja gerade, wie wenig allmächtig die Vereinigten Staaten in Wirklichkeit sind. Die fundamentalistischen Feinde der USA, die auch die Feinde des demokratischen Europa sind, begreifen das nur zu gut. Den meisten Europäern hingegen will es einfach nicht in den Kopf.

In einem gewissen Widerspruch dazu signalisiert der beispiellose Hype um die Wahlen in den USA aber auch, dass wir eine neue Phase der Globalisierung erreicht haben. Während die USA allenthalben dafür kritisiert werden, dass sie sich ungerufen in die Belange der ganzen Welt einmischten, betrachtet die Weltöffentlichkeit die dortige Präsidentschaftsentscheidung wie selbstverständlich als ihre eigene, gleichsam weltinnenpolitische Angelegenheit. Implizit liegt darin das Eingeständnis, dass die Vereinigten Staaten derzeit stellvertretend für die noch nicht existierende politische Weltgesellschaft stehen. In den USA wird am 2. November nicht nur ein Präsident gewählt. Im kollektiven Phantasma transformiert sich der Wahlgang zum Vorgriff auf die Entscheidung über eine zukünftige Weltregierung.

Richard Herzinger ist Buchautor (»Republik ohne Mitte«) und war langjähriger Autor und Redakteur der Zeit, seit kurzem ist er Deutschland-Korrespondent der Zürcher Weltwoche in Berlin