Das andere Gesicht von La Paz

Ein Jahr nach der Massenrevolte in Bolivien fürchtet die Regierung weiter den Protest der Straße. Die Stadt El Alto ist ein Zentrum der Rebellion. von stefanie kron und simón ramírez voltaire (text und fotos)

Abel Mamani ist ein mächtiger Mann in El Alto. »Die Weißen taugen nichts mehr«, sagt der Präsident der Föderation der Nachbarschaftsräte »Fejuve«. Jetzt müssten es wohl die Aymara selbst in die Hand nehmen, setzt er fort. Seine Genossen nicken energisch. So sehen es heute viele in El Alto. Ein Jahr nach den Massenprotesten vom Oktober 2003, die den Präsidenten Boliviens, Gonzalo Sánchez de Lozada, genannt Goni, in die Flucht schlugen, treten die Bewohnerinnen und Bewohner von El Alto selbstbewusst auf. Nicht ohne Grund, denn die »Fejuve« bestimmt die politische Tagesordnung im ganzen Land mit. Die Stadt El Alto, einst Ausdruck der Trennung der »Indios« von den Weißen, ist zum zentralen Ort des gesellschaftlichen Wandels in dem Andenland geworden. Die Selbstbezeichnung Indígena oder Aymara beschreibt hierbei weniger eine vorgebliche ethnische Realität, sondern eine strategische Positionierung im neuen Machtgefüge Boliviens.

Der Name der Stadt sagt unpoetisch, was vor allem anderen auszeichnet: die buchstäblich Schwindel erregende Höhe. El Alto liegt hoch, sehr hoch, mehr als 4 000 Meter über dem Meeresspiegel, mitten im kargen und kalten Andenhochland, dem Altiplano. Und direkt über dem Tal der bolivianischen Hauptstadt La Paz. Der ungleiche Zwilling von La Paz ist eine besondere Art von Boomtown. Einst eine unwirtliche Siedlung indigener Migrantinnen und Migranten vom Land, die vor allem seit den achtziger Jahren nach La Paz kamen, um als Hausangestellte, Taxifahrer, Straßenhändlerinnen und Hilfsarbeiter ein Auskommen zu finden, ist die Einwohnerzahl des ehemaligen Armenviertels zwischen 1950 und 2001 von 11 000 auf fast eine Million angewachsen. 1988 löste sich El Alto von La Paz und erhielt eigene Stadtrechte.

Ohne Zweifel hat die heute drittgrößte Stadt Boliviens viel von einer Metropole, und doch passt sie in kein bekanntes Schema urbaner Räume. Das Zentrum namens La Ceja mit der großen Hauptstraße, die am Horizont in der grauen, nackten Erde des Altiplano zu verschwinden scheint, beginnt an einem wenig charmanten Autobahnkreuz direkt hinter der Mautstelle. Kein Café, kein Platz, kein Park, ja nicht einmal eine Shoppingmall oder ein Fast-Food-Restaurant laden zum Verweilen ein. Stattdessen drängt sich der Eindruck von Flüchtigkeit und Improvisation auf. Die Stadt wirkt wie ein gigantischer Wochenmarkt. Schotterpisten führen jenseits der Hauptstraße in die Wohnviertel. Niedrige, selten mehr als zweistöckige Gebäude säumen die Avenida, die meisten von ihnen sind unverputzt, viele scheinen seit Jahren auf die Fertigstellung zu warten. In den Ladenlokalen entlang der Avenida befinden sich unzählige Garküchen, Anwaltsklitschen, Gebrauchtwaren- oder Ersatzteillager für Fahrzeuge, landwirtschaftliche Geräte, Waschmaschinen und sanitäre Anlagen. Davor bieten Straßenhändlerinnen, Schuhputzer und evangelikale Seelentröster laut ihre Produkte oder Dienste an. Hunderte Kleinbusse, die die Menschen nach La Paz, in ihre Wohnsiedlungen oder in die angrenzenden Dörfer des Altiplano bringen, verstopfen die Avenida.

Rebellische Alteños

Was das Straßenbild nicht sofort offenbart, ist das rebellische El Alto, das im vergangenen Jahr in der ganzen Welt Aufsehen erregte. Mehrere Spruchbänder lassen ahnen, dass die Wut der Alteños auf die kreolische politische Elite nach wie vor präsent ist: »El Alto geht immer aufrecht, niemals in die Knie.« Hin und wieder finden sich Graffitis, die die Verstaatlichung der Gasvorkommen oder die strafrechtliche Verfolgung von Goni fordern.

Mit einer Totalblockade von El Alto und La Paz erreichten die Protestierenden im Oktober 2003 den Sturz von Sánchez de Lozada. Wenn es heute um den 8. Oktober 2003 geht, dann ist von der »Karawane des Todes« die Rede. Nachdem Straßensperren und Demonstrationen in den ländlichen Regionen des Andenhochlandes bereits vier Wochen angedauert hatten, mobilisierten die Nachbarschaftsgruppen in El Alto zur vollständigen und unbefristeten Blockade der Stadt. Sie besetzten das Treibstofflager, das die gesamte Hauptstadtregion versorgt. Als das Benzin knapp wurde, versuchte das Militär, eine Karawane von Tanklastern nach La Paz durchzubringen. Immer mehr Menschen stellten sich den Soldaten und Lkw in den Weg und blockierten die Zufahrt. Auf Anordnung von Präsident Sánchez de Lozada begann die Armee, in die Menge zu schießen. Mehr als 60 Menschen starben bei dem Massaker, Hunderte wurden verletzt. Trotzdem erreichten die Protestierenden schließlich, dass es zum Rückzug der Soldaten und zum Rücktritt des Präsidenten kam. Entzündet hatten sich die Unruhen an den Plänen der Regierung, den Export von bolivianischem Erdgas über Chile zum Schleuderpreis internationalen Investoren zu überlassen.

Fast genau ein Jahr später sind wir hier, um ein paar Aktivisten von damals zu treffen. Auf der Suche nach unseren Kontaktpersonen schieben wir uns durch das Getümmel der Avenida. Schnell werden jedoch wir gefunden: »Ihr seht aus wie Journalisten aus dem Ausland«, spricht uns eine junge Frau an. Sie stellt sich als Vertreterin der Frauenföderation von El Alto vor und schiebt zwei weitere Genossen der Koordination zur Verteidigung des Erdgases zu uns: »Wir organisieren ein paar Aktionen zum Jahrestag des Massakers und wollen euch dazu einladen, damit ihr in eurem Land darüber berichten könnt.« Sie schleusen uns zum Sitz der »Fejuve« in einem dreistöckigen Haus, wo viele andere Basisgruppen unter einem Dach ihre Büros und gemeinsame Versammlungsräume haben. Im Gebäude nebenan befindet sich die Regionale Arbeiterzentrale COR, die zweite Massenorganisation, mit der ein partnerschaftliches Verhältnis besteht. Die drei von der Koordination und der Frauenföderation erzählen uns von den Auseinandersetzungen im letzten Jahr und davon, dass sie nicht eher ruhen werden, bis das Erdgas wieder verstaatlicht und Goni für seine Taten verurteilt sein wird.

Die Nachbarschaftsgruppen, Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen von El Alto haben derzeit das nationale Parlament im Visier. In La Paz finden täglich mindestens drei Demonstrationen statt. Es gibt Aktivitäten im ganzen Land: Die Kokabauern im bolivianischen Tiefland des Chapare, Indigenagruppen im Altiplano, Minenarbeiter, Landlose, Rentner, Kleinkreditnehmer und Taxifahrer – alle haben ihre speziellen Forderungen. Dazu gehören Land für die Landlosen, die Industrialisierung der andinen Landwirtschaft und die Legalisierung der Kokafelder. Auch Rücktritte von korrupten Funktionären und Politikern werden erzwungen. Das Parlament fürchtet nichts mehr als eine erneute Kampagne, die landesweite Straßenblockaden zur Folge hat.

Mit 27 Prozent der Stimmen sind im Jahr 2002 erstmals zwei indigen geprägte Parteien, MAS und MIP, in das Parlament eingezogen und so in eine Domäne der kreolischen Oligarchie vorgedrungen. Dennoch beugt sich die Regierungspolitik immer noch dem Druck der Straße. Kürzlich wurde ein Gesetz zur erneuten Verstaatlichung des Erdgases auf den Weg gebracht, ein Prozess gegen den ehemaligen Präsidenten Sánchez de Lozada, der in den USA residiert, scheint in greifbare Nähe zu rücken, und eine verfassungsgebende Versammlung zur »Neugründung der Republik« ist für 2005 anberaumt. Die US-Regierung hat bereits Widerstand gegen diese Vorhaben angekündigt. Die geplanten Steuererhöhungen für die multinationalen Unternehmen der Erdgasförderung stellten ein Problem für sie dar, hieß es offiziell. »Wir haben die Verpflichtung, die nordamerikanischen Investitionen zu schützen«, drohte der Gesandte des State Departments der USA, Charles Shapiro, vor zwei Wochen in La Paz. Auch eine Auslieferung des geschassten Staatschefs ist wenig wahrscheinlich.

Metropole in Armut

In dem Büro der »Fejuve« haben wir einen Gesprächstermin mit Abel Mamani. »El Alto ist eine Millionenstadt, und wir leben im Jahre 2004«, sagt er, »trotzdem haben die meisten Wohnviertel weder eine asphaltierte Straße noch Wasser- oder Stromanschluss. Und wenn, dann ist es sehr teuer, ebenso wie das Gas zum Kochen und Heizen. Gleichzeitig verschenken unsere korrupten Regierungen die bolivianischen Gasvorkommen an Chile. Deshalb fordern wir die Nationalisierung und Industrialisierung der fossilen Brennstoffe, damit das Geld im Land bleibt, wir hier Straßen, Wasser und Strom bekommen und Arbeitsplätze geschaffen werden.«

Nicht nur die geographische Lage, das schnelle Wachstum und die Einwohnerschaft, die sich selbst mehrheitlich als Aymara bezeichnet, nach den Quechua die zweitgrößte indianische Sprachgruppe Boliviens, charakterisieren El Alto als das andere Gesicht von La Paz, dem Sitz der Regierung und der Eliten des Landes. El Alto hält unter den bolivianischen Großstädten auch die Negativrekorde, was die Ausstattung mit sozialer Infrastruktur, asphaltierten Straßen, Strom-, Trink- und Abwasserversorgung, medizinischer Betreuung und mit Schulen betrifft. Die Armutsrate liegt bei etwa 50 Prozent. Offizielle Arbeitslosenzahlen lassen sich für El Alto nicht finden, denn offizielle Arbeitslose gibt es kaum: Etwa 70 Prozent der Werktätigen sind im informellen Sektor tätig, die halboffiziellen oder familiären Arbeitsbeziehungen sind prekär. »Die Stadt El Alto wird bis heute vom Staat behandelt wie ein vergessenes und diskriminiertes indianisches Dorf«, bringt der bolivianische Soziologe Alvaro Garcia Linera die Beziehung zwischen dem Staat und der jüngsten Stadt des Landes auf den Punkt.

Vor diesem Hintergrund waren die wochenlangen Massenproteste und Blockaden gegen den Billigexport des Gases vor einem Jahr kein Ausdruck von stumpfem Nationalismus. Auch wenn die Erbfeindschaft zwischen Bolivien und Chile dabei wieder auf die Tagesordnung kam und in der Umgebung des charismatischen Bauernaktivisten Felipe Quispe, der eine dezidiert ethnische Argumentation benutzt, von der »Nation Aymara« die Rede ist. Vielmehr war der »Krieg ums Gas« eine Implosion der anachronistischen und rassistischen Ordnung der bolivianischen Gesellschaft. Die Rebellion gegen den Ausverkauf der Gasvorkommen beinhaltete neben der Forderung nach der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums vor allem die Forderung nach der Anerkennung der ausgeschlossenen Mehrheit als Subjekte mit sozialen und politischen Rechten. Die Selbstbezeichnung der sozialen Bewegungen als Indígenas – als Aymara oder Quechua – ist ein Vehikel für Solidarität. Sie erlaubt die Thematisierung von Armut und Marginalisierung.

Die Sozial- und Stadtentwicklungspolitik der kreolischen Regierungen ignorierte jahrzehntelang die Urbanität El Altos und die Bedürfnisse Bewohnerinnen und Bewohner. Übersehen wurde, dass hier ein neuer sozialer Raum mit enormer politischer Sprengkraft entstand, der die postkoloniale Trennung zwischen Stadt und Land, zwischen indigen und kreolisch, zwischen weißen Staatsbürgern, ihrer Repräsentation in Form etablierter politischer Parteien, und indigenen »non-subjects-of-the-state« nicht nur in Frage stellte, sondern de facto auch überwand. El Alto verkörpert neue Konzepte von Urbanität und Bürgerschaft, eine territoriale Neudefinition des Politischen und den Anfang vom Ende der Geographie der Macht des postkolonialen bolivianischen Staates mit seiner räumlich-ethnischen Trennung.

Informelle Parallelstruktur

Fest sind die Beziehungen der Menschen in El Alto zur »Welt des Landes«. Viele Stadtviertel, so genannte »Barrios«, sind nach den Herkunftsgemeinden im Altiplano benannt. Hier liegt das Geheimnis der Überlebensstrategie: Warentausch, Ämterrotation sowie kollektive Arbeits- und Loyalitätsbeziehungen mit dem Dorf der Familie ergeben komplexe, nicht an das Territorium gebundene Gemeindestrukturen. Die städtischen Nachbarschaftsräte sind eine Fortführung und Modifizierung der indigenen sozialen Organisationsformen und befördern die informelle Urbanisierung, getragen von mobilen Subjekten. In El Alto entstand eine Parallelstruktur der sozialen Organisation und politischen Repräsentation »von unten«, jenseits der staatlichen Institutionen. »Die Politiker der offiziellen Stadtregierung von El Alto sehen wir hier nur als Geschäftsführung«, klärt uns Mamani auf. »Die eigentliche Regierung sind die etwa 600 basisdemokratischen Nachbarschaftsräte. Sie haben hier die Macht. Jeder Hauseigentümer in El Alto ist Mitglied in einem Nachbarschaftsrat. Nicht die traditionellen politischen Parteien, sondern ›Fejuve‹ repräsentieren die Bürgerinnen und Bürger von El Alto. Deshalb sind wir auch keine politische Organisation, sondern eine Bürgerbewegung.«

Der Oktober 2003 wird häufig mit der antikolonialen Rebellion von 1780 bis 1782 verglichen, als La Paz in einem »Cerco« (Ring) von der Indígena-Armee umzingelt wurde. Bolivien hieß damals noch Alto Perú, und die Kämpfe gelten unter Historikern heute als diejenigen, die der spanischen Kolonialmacht am gefährlichsten wurden. Vorrangig sind es Männernamen wie Tupac Amaru und Tupac Katari, die mit dieser Zeit verbunden werden. Ermordet wurden damals auch zwei Frauen: Bartolina Sisa und Gregoria Apaza. Ihre Namen schrieben sich inzwischen ebenso in das kollektive Gedächtnis ein. In El Alto gelten die beiden Rebellinnen als Vorbilder. Auch der Aufstand vor einem Jahr soll vor allem von Frauen getragen worden sein. Auf Fotos von den Protesten, Demonstrationen und Blockaden stehen Frauen in der ersten Reihe. »Die Frauen aus El Alto sind, bewaffnet mit alten Gewehren der Revolution von 1952, der Armee entgegengetreten«, erzählt uns ein Jugendlicher vor dem Büro der »Fejuve«.

Die französische Anthropologin Virginie Baby-Collin bezeichnet die spezifische Urbanität und die sozialen Praktiken der Bewohnerinnen und Bewohner von El Alto als »Mestizaje«, als ein neues soziales Konzept von Subjekt und Raum jenseits postkolonialer Zuschreibungen an Geschlecht und Rasse. Sinnbild dieser Mestizaje sei eine weibliche Figur: Die Frau mit den schwarzen Zöpfen, dem dunklen Männerhut auf dem Kopf und den dicken weiten Röcken, deren Foto als Ausdruck indianischer Folklore jeden Bolivien-Reiseführer ziert, ist das Modernste, was Bolivien zu bieten hat.

Die »Cholas«, wie sie von den Kreolen verächtlich genannt werden, weil sie so gar nicht in das bürgerliche Frauenbild passen, bestimmen in El Alto nicht nur das Straßenbild, sondern auch die prekäre Ökonomie. Sie sind Besitzerinnen der teuren und begehrten Stände auf den renommierten Märkten, Verwalterinnen des familiären Etats, höchst mobile Pendlerinnen zwischen Stadt und Land und Übersetzerinnen des Spanischen und der indigenen Sprachen.

Wir fragen, warum das Team des »Fejuve«-Chefs Abel Mamani nur aus Männern besteht. »Die Frauen bestimmen hier den Alltag, die Ökonomie und die Straße«, erklärt uns Florentina Alegre, eine Chola und Mitglied der Gruppe »Mujeres Creando«, die mit einer feministischen Fernsehshow die Codes sprengen will. »Aber wenn es darum geht, wer im Namen unserer Bewegungen spricht, sind es wieder nur die Männer.« So hat die Chola zwar den Hut auf, aber nicht die Hosen an.