Betrug ohne Erfolg

Mit Repressalien und Manipulationen versuchte der ukrainische Präsident Kutschma, seinen Wunschnachfolger durchzusetzen. Doch sein Kandidat verfehlte die absolute Mehrheit. von franziska bruder

Am Tag nach der Wahl begannen die Proteste. In Kiew und Lwiw demonstrierten am Montag der vergangenen Woche oppositionelle Studenten gegen Wahlmanipulationen, im Parlament kündigte Julia Tymoschenko, ehemals stellvertretende Ministerpräsidentin und heute die führende Oppositionspolitikerin des Landes, einen »Kampf gegen die Banditen« an. Die OSZE-Beobachter äußerten sich etwas diplomatischer, stellten aber ebenfalls fest, die Wahl habe nicht demokratischen Standards entsprochen.

Dennoch liegt der Oppositionskandidat Viktor Juschtschenko nach der bisherigen Stimmenauszählung mit knapp 40 Prozent fast gleichauf mit dem derzeitigen Premierminister Viktor Janukovytsch, den sich der amtierende Präsident Leonid Kutschma als Nachfolger wünschte. Die restlichen 22 Kandiaten blieben bedeutungslos. »Der Betrug hat nicht funktioniert«, kommentierte Tymuschenko, denn die Ukrainer hätten sich als »zu weise« erwiesen.

Vor der Wahl war die Befürchtung, Kutschma könne sich durch Manipulationen das gewünschte Ergebnis verschaffen, ein zentrales Thema der oppositionellen Kampagne. Unter der Parole »Die Kraft des Volkes gegen Lüge und Betrug« hatten am 24. Oktober mehr als 100 000 Menschen an einer überregionalen Demonstration der Oppositionsbewegung in Kiew teilgenommen. Angeführt wurde sie von dem Parteienbündnis Nascha Ukrajina (Unsere Ukraine), dessen Vorsitzender Viktor Juschtschenko ist.

In den letzten Wochen wurden immer wieder Fälle von Wahlbehinderung bekannt. Daneben gab es Versuche, Oppositionelle einzuschüchterern. Juschtschenko behauptete sogar, das Opfer eines Giftanschlages geworden zu sein. Tatsächlich musste sich der Präsidentschaftskandidat Anfang Oktober in ärztliche Behandlung begeben; noch heute wirkt sein Gesicht geschwollen. Die Ärzte konnten eine Vergiftung weder bestätigen noch ausschließen.

Das ukrainische staatliche Fernsehen betrieb während des Wahlkampfes ausschließlich Propaganda für Janukovytsch; der unabhängige Fernsehsender Kanal 5 hingegen erhielt Ausstrahlungsverbot für verschiedene Landesteile und für die Hauptstadt. Vor allem die Jugendorganisation Pora (Zeit), die Juschtschenko unterstützt, wurde Ziel der Repression. In mehreren Fällen wurde ihren Mitgliedern bei Durchsuchungen von der Miliz Sprengstoff untergeschoben.

Auch Regierungsvertreter der USA und der EU forderten demokratische Wahlen, das EU-Parlament schickte eine Beobachterkommission nach Kiew. Dem russischen Präsidenten Wladimir Putin schien der Wahlmodus wenig Sorgen zu bereiten, er widmete sich unverhohlen und offen der Beeinflussung des Ergebnisses. Anfang Oktober lud er Janukovytsch zu seinem Geburtstag nach Russland ein und empfing ihn bei sich zu Hause. In der Woche vor dem 31. Oktober hielt sich der russische Staatschef drei Tage in Kiew auf und nahm dort gemeinsam mit Janukovytsch die Parade anlässlich der Feier zum 60. Jahrestag der Befreiung der Ukraine ab. Dafür verlegte man extra den Jahrestag, denn Kiew wurde am 6. November 1943 befreit.

Andere Präsidentschaftskandidaten mochte Putin nicht treffen. Außerdem kündigte der russische Präsident an, ukrainische Bürger könnten in Zukunft ohne Reisepass und nur mit Ausweis nach Russland einreisen und sich dort ohne Anmeldung neunzig Tage aufhalten. Das ist bemerkenswert, da sich selbst russische Staatsbürger bereits für einen dreitägigen Aufenthalt in Moskau eigens anmelden müssen. Die erleichterten Reise- und Aufenthaltsbedingungen sollen die Ukraine stärker an die Russische Föderation binden.

Janukovytsch gilt als prorussischer Politiker, Juschtschenko dagegen wird eine prowestliche Orientierung zugeschrieben. Doch diese Darstellung ignoriert die politische und wirtschaftliche Dominanz Russlands vor allem auf dem Energiesektor, aber auch in den Medien, die den Handlungsspielraum beider Kandidaten eingrenzt. Innerhalb der letzten Jahre verringerte sich zwar der ukrainische Export nach Russland von 38 auf 18 Prozent, dennoch ist Russland – vor Deutschland – mit einem Anteil von 7,5 Prozent immer noch der wichtigste Markt für die Ukraine.

In den letzten Wochen deutete die ukrainische Regierung eine stärkere Anbindung an Russland an. So hieß es, man strebe nicht weiter eine Mitgliedschaft in der EU und der Nato an. Stattdessen erwägt nun Janukovytsch, den Marinestützpunkt Sevastopol, einen strategisch wichtigen Punkt zur Kontrolle des Schwarzen Meeres auf der Krim, den Russen zu übergeben.

Zur Frage der EU erklärte auch Juschtschenko in den letzten Wochen nur vage, die Ukraine sei ein Teil Europas. In seinem Wahlkampf forderte er den Rückzug der ukrainischen Truppen aus dem Irak, obwohl die ukrainische Beteiligung an der von den Polen geleiteten Sicherheitszone eine wesentliche Verbindung zu Polen und den USA darstellt. Überdies sprach er sich für die Weiterentwicklung der »strategischen Partnerschaft« mit Russland aus. Er propagierte die Einführung einer russisch-ukrainischen Handelszone ohne Beschränkungen. Dies sei wirksamer als alle Papiere, die bislang für den »Gemeinsamen Wirtschaftsraum« mit Russland, Belarus und Kasachstan unterschrieben wurden.

Sowohl Juschtschenko als auch Janukovytsch stammen aus der Ost-Ukraine. Juschtschenko hielt sich länger in der West-Ukraine auf, sein Aufenthalt in den USA und seine Ehe mit einer US-Amerikanerin verstärken sein prowestliches Image. Janukovytsch ist fest in die Machtriege Kutschmas eingebunden. Die beiden Kandidaten stützen sich auf unterschiedliche Netzwerke und Clans der Oligarchie. Entscheidend ist, ob die während der zehnjährigen Präsidentschaft Kutschmas etablierte Machtstruktur aufgebrochen werden kann und ob in dem komplizierten Gebilde der ukrainischen Oligarchen und ihren Verflechtungen mit der Politik und den Magnaten Russlands neue Wege gefunden werden können.

Mit 75 Prozent war die Wahlbeteiligung sehr hoch, und die regionalen Unterschiede wurden bei der Stimmauszählung deutlich. Im west-ukrainischen Gebiet Ivano-Frankivsk gewannen Juschtschenko 89 und Janukovytsch kaum mehr als vier Prozent, im ostukrainischen Donec erhielt Janukovytsch fast 87, Juschtschenko dagegen nicht einmal drei Prozent. Das endgültige Ergebnis wird erst in dieser Woche veröffentlicht, aber es ist ausgeschlossen, dass einer der Kandidaten die erforderliche absolute Mehrheit erhält. In der zweiten Runde am 21. November genügt eine einfache Mehrheit. Trotz der Behinderungen durch die Regierung scheinen Juschtschenkos Chancen nicht schlecht zu sein.