Keine Gnade der späten Geburt

Die Filmreihe »Die zweite und dritte Generation nach dem Holocaust« will ermutigen, die eigene Familiengeschichte aufzudecken.von martin kröger

Es gibt kein Licht am Ende des Tunnels, es wird immer schwärzer.« Schockiert steht Dirk Kuhl an dem Ort, an dem sein Vater gewirkt hat, im ehemaligen Zwangsarbeiterlager auf dem Gelände der Hermann-Göring-Werke in Salzgitter. Als »Tunnel« bezeichnet Kuhl die Auseinandersetzung mit der Geschichte der eigenen Eltern, die Täter im Nationalsozialismus waren. Soeben hat ihm ein Historiker neue Fakten über die Tätigkeiten seines Vaters, Günther Kuhl, vorgelegt. Dieser war zunächst Gestapo-Chef von Braunschweig und zu Kriegszeiten in dieser Funktion auch für das Zwangsarbeiterlager verantwortlich, in dem über 3 000 Menschen ermordet wurden. Er soll bei den regelmäßigen Erschießungen oft selbst anwesend gewesen sein, wie der Historiker erläutert.

Da ist er wieder, der Tunnel: »Aus den Papieren, die ich hatte, geht dies nicht hervor«, sagt Dirk Kuhl in die Kamera. »Mein Gott, das ist es, wenn man reingeht, wird es immer schlimmer.« Kameraschwenk, Samson Munn kommt ins Bild und sagt: »Wenn sich die Kinder von Nazis mit der Vergangenheit auseinandersetzen wollen, dann müssen sie einen sehr schmerzhaften Weg gehen.« Samson Munn, amerikanisch-jüdischer Herkunft, ist der Sohn von Grete Munn, einer Überlebenden der Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen, die nach dem Krieg in die Vereinigten Staaten emigrierte. Munn begleitet seinen Freund Dirk Kuhl auf dem Weg in die eigene Vergangenheit. Kennen gelernt haben sich die beiden in der Gruppe »To reflect and trust« des israelischen Psychoanalytikers Dan Bar-On, der seit den achtziger Jahren versucht, Kinder von Nazitätern und Überlebenden der Shoah zusammenzubringen, um »im Niemandsland der Vorurteile« mithilfe »absoluter Offenheit« zu einer Verständigung und Kommunikation zu gelangen.

Kommunikation zu initiieren, dem haben sich auch die Macherinnen und Macher der Filmreihe »Geschichte. Familie. Identität. Die zweite und dritte Generation nach dem Holocaust« verschrieben, die vom 11. bis 20. November im Berliner Eiszeit-Kino gezeigt wird. Im Eröffnungsdokumentarfilm »Eine unmögliche Freundschaft«, aus dem die Szene mit Dirk Kuhl und Samson Munn stammt, soll bereits eine Reihe der grundsätzlichen Fragen und Grenzen einer solchen Auseinandersetzung aufgezeigt werden.

Wie können die NS-Opfer und ihre Nachfahren mit dem Trauma der Erlebnisse leben? Was davon wird an ihre Kinder und Enkelkinder weitergegeben, und wie können sie damit umgehen? Welche Möglichkeiten haben die Nachkommen der Täter, sich die Schuld ihrer Vorfahren bewusst zu machen und damit umzugehen – mit der Gewissheit, dass sie sich nie »bewältigen« lassen wird? Wie kann überhaupt eine solche Auseinandersetzung mit den Erlebnissen der Eltern oder Großeltern aussehen?

Um diese Probleme zu erörtern, planen die Veranstalter der Filmreihe im Anschluss an jeden der sechs Filme Diskussionsveranstaltungen, bei denen jeweils ein Protagonist oder Filmemacher anwesend sein wird. Damit die Perspektiven möglichst vielfältig sind, achteten die Veranstalter darauf, dass die Filmemacher über einen je unterschiedlichen familiären Background verfügen.

Im zweiten Film der Reihe begibt sich Angelika Levi auf Spurensuche nach ihrer jüdischen Mutter Ursula Levi: »Ich wollte verstehen, wie ein Trauma, das ich gar nicht erlebt habe, an mich weitergegeben wurde und auf welche Art es meine Wahrnehmung geprägt hat«, sagt Levi über das Ansinnen ihres Films.

In »Tangled Roots« ist die Protagonistin Heidi Emberling-Schmidt, die Tochter einer amerikanischen Jüdin und eines nicht jüdischen Deutschen. Über den Zweiten Weltkrieg und die Terrorherrschaft der Nationalsozialisten wurde in ihrer Familie geschwiegen. In »Tangled Roots« unternimmt Emberling-Schmidt nun den Versuch, bei einem Besuch ihrer deutschen Verwandten diesen »verworrenen Wurzeln« nachzuspüren. Auf eine solche Reise in die Vergangenheit begibt sich auch der Regisseur Christoph Boeckel in seinem Film »Spur des Vaters«. Er hatte überraschend von seinem Vater dessen Tagebücher über seine Teilnahme am Russlandfeldzug zugeschickt bekommen.

Einen völlig anderen Hintergrund hat der Dokumentarfilm »Ima« (hebräisch: Mutter), in dem die Italienerin Caterina Klusemann versucht, die Geschichte ihrer polnischen Großmutter zu ergründen, die zum Christentum konvertierte und auch ihre Tochter taufen ließ. Eine Leerstelle in der Familiengeschichte, über die viele Jahre nicht geredet wurde. Erst langsam wird das Schweigen gebrochen, und der Filmemacherin gelingt es, einen Dialog zu entwickeln, der sich mit dieser schmerzhaften und traumatischen Familienvergangenheit beschäftigt, die eng mit der nationalsozialistischen Judenverfolgung verknüpft ist.

Mit einer anderen Intention ging die Filmemacherin Beate Niemann an ihre persönliche Vergangenheitsaufarbeitung. Ursprünglich wollte sie ihren Vater, der 1972 in einem Leipziger Gefängnis gestorben war, rehabilitieren. Doch anstatt Entlastendes aufzudecken, erfährt sie, dass der Vater ein Massenmörder war, der als »Spezialist für Vergasungen in LKWs« galt und überall in von Deutschland besetzten Gebieten eingesetzt wurde. Im Abschlussfilm der Reihe, »Der gute Vater – Eine Tochter klagt an«, sucht sie die Orte der Vernichtung auf, »um das Dunkel der Lüge und des Schweigens« zu erhellen.

Ein Anliegen, dass auch der Gesamtkonzeption der Filmreihe zu Grunde liegt. »Es gibt viel zu wenig Austausch in den Familien der Täter über die familiären Hintergründe«, sagt Tanja Kinzel, die das Gesamtprogramm mit vorbereitet hat. Da die Auseinandersetzung mit der Shoah und dem Nationalsozialismus unbedingt notwendig sei, bieten gerade diese individuellen und personalisierten Perspektiven Chancen, um Geschichtsbilder zu entwickeln, die sich jenseits von abstrakten Zahlen und Statistiken bewegen. Dazu gehört auch die Beschäftigung mit dem Hintergrund der Täter, ohne jedoch aus dem Blick zu verlieren, was die beiden Gruppen, Täter und Opfer, trennt. »Versöhnung ist nicht möglich«, betont Kinzel. Es gehe vielmehr darum, wie man aufeinander zugehe und sich positioniere. Zumal es Opfern ungleich schwerer fällt, die eigene traumatische Geschichte zu negieren, als Tätern, die oft versuchen, ihre Geschichte vergessen zu machen.

Politisch gehe es deshalb auch darum, der seit der Wende 1989 immer wiederkehrenden »Schlussstrichmentalität«, die sich auch in der zunehmend aggressiven Außenpolitik Deutschlands oder in den Debatten um die Äußerungen von Martin Walser widerspiegelt, entgegenzutreten. »Die Nachwirkungen der Familiengeschichte bis heute sind kein Thema, das sich abschließen lässt«, sagt Kinzel. Dass solche Prozesse niemals abgeschlossen seien, habe zudem die Wehrmachtsausstellung gezeigt, in der deutlich wurde, wie viele Untersuchungen, insbesondere innerhalb der Täterforschung, noch ausstehen. Um weiter in diese Richtung zu wirken, ist es erklärtes Ziel der Filmreihe, Menschen Mut zu machen, in die eigene Vergangenheit zu blicken. Weshalb die Diskussionsrunden im Anschluss an die Filme auch dazu dienen sollen, Recherchetipps und Anreize für Besuche in Archiven zu geben. Es soll gezeigt werden, »wo man bei der Suche nach der eigenen Geschichte anfangen kann«, sagt Kinzel.

Insgesamt dürfen jedoch die großen Zusammenhänge der Geschichte des Nationalsozialismus nicht aus den Augen verloren werden, meint sie, weil diese als Grundlage für die Einbettung der eigenen Familiengeschichte unerlässlich sind. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte lohnt nicht zuletzt deshalb, weil sie das eigene Bewusstsein schärfe, sich dem wieder erstarkenden Antisemitismus entgegenzustellen und sich auch in der Gegenwart zu positionieren.

»Geschichte. Familie. Identität. Die zweite und dritte Generation nach dem Holocaust.« Vom 11. bis 20. November 2004 im Eiszeit-Kino. (www.projekte-gegen-antisemitismus.de)