Ein Regensburg weniger

Immer mehr Deutsche suchen ihr Glück im Ausland. Sie erhoffen sich dort eine bessere Lebensqualität. von annett jaensch

Für manche ist es nur eine kleine, grüne Plastikkarte. Für andere ist es ein »Geschenk des Himmels«. So nennt zum Beispiel Andreas Tillack aus Berlin seinen Gewinn in der Green-Card-Lotterie.

Der 24jährige Physikstudent zählt zu den 1 275 Deutschen, die im Jahr 2004 eine unbegrenzt gültige Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung für die USA gewonnen haben. Gleich beim ersten Mal zu gewinnen, das habe ihn umgehauen, sagt Tillack, der im Juli die Nachricht über sein Losglück erhielt. Die Koffer packen will er zwar erst im nächsten Jahr, aber die Entscheidung auszuwandern steht für ihn felsenfest. Zu langwierig, zu mühsam ist in Deutschland der Weg zu seinem beruflichen Traum: eine Stelle in der Raumfahrtforschung. Im Moment studiert er an der Humboldt-Universität im neunten Semester Physik. Wenn alles klappt, will er schon seine Diplomarbeit in den Staaten schreiben, am liebsten an der kalifornischen Eliteuniversität Berkeley.

Der bärtige Mittzwanziger, der gut in ein Café mit junger, lässiger Kundschaft in Berlin-Mitte passt, führt das Wort Auswandern wie selbstverständlich im Munde. Gibt es nichts, was ihm das Weggehen schwer machen würde? »Klar, Familie und Freunde werden fehlen«, gibt er zu, »aber man kann sich ja auch mal ins Flugzeug setzen.« Tillack war noch nie in den USA. Eine neue Existenz im Kaltstart steht ihm bevor. Sorgen um seine Integration macht er sich dennoch nicht. Die universitäre Umgebung sei schließlich bekannt für ihren liberalen, weltoffenen Geist.

Dass die Aussicht auf einen lukrativen Job immer mehr Hochqualifizierte aus Deutschland weglockt, haben die Medien längst erkannt. Brain Drain, Exodus der »Besten«, Verlust von so genanntem Humankapital – das Phänomen der Abwanderung von Akademikern trägt diverse Namen. Dem dritten Europäischen Report über Wissenschaft und Technologie zufolge arbeiten 18 000 Deutsche mit Hochschulabschluss und Arbeitserlaubnis als Forscher in den Vereinigten Staaten. Weitere 6 000 frisch Promovierte freuen sich über Postdoktorandenstellen auf der anderen Seite des Atlantiks. Wen wundert es da noch, dass die OECD Deutschland bereits im Jahr 2002 als bevorzugtes Reservoir für die Gewinnung von Akademikern für die USA bezeichnete?

Politische Bedenken scheinen nur in einem geringen Maß die Lust am Auswandern zu verderben. 12 325 Umzüge von Deutschen in die USA zählte das Statistische Bundesamt im Jahr 2003. Die Staaten sind somit weiterhin das Lieblingsland der Deutschen. »Unmittelbar nach dem 11. September sind natürlich viele abgesprungen«, weiß Holger Zimmermann von der Agentur American Dream. Die Berliner Firma mit der Freiheitsstatue im Logo berät Ausreisewillige in Visa-Angelegenheiten und leitet Anträge für die Green-Card-Lotterie weiter. »Wir sind selbst überrascht, dass immer noch Tausende in die USA wollen, obwohl der Antiamerikanismus angeblich so verbreitet sein soll«, sagt Zimmermann.

Jahrelang prägten Ruheständler und Aussteiger das Bild vom Auswanderer, Menschen also, die entweder »schon ausgesorgt« hatten oder ihr Glück vermeintlich auf eigene Faust versuchten. Zuletzt kamen eher spektakuläre Einzelfälle in die Schlagzeilen, so etwa die Abwanderung von Forscherkoryphäen oder »Florida-Rolf«, der zum Ärger der Deutschen am Strand von Miami seine Stütze empfing. Rolf John, wie der Mann mit bürgerlichem Namen heißt, war nicht nur wochenlang Titelheld der Bild-Zeitung, sondern auch Anlass einer Gesetzesnovellierung. Diese zwang ihn inzwischen, wie etwa 900 weitere Empfänger von Auslandssozialhilfe, zur Rückkehr nach Deutschland.

Weniger beachtet, aber immer zahlreicher werdend ist der Weggang von Otto Normalverbraucher. Einschlägige Beratungsstellen registrieren insgesamt mehr Interesse an einem Leben in der Ferne, und das quer durch alle Bevölkerungsgruppen. Das bestätigt auch das Raphaels-Werk, die bekannteste Adresse, wenn es um die Beratung für Deutschlandmüde geht. »Ganz oft dreht es sich beim Auswandern um eine andere Lebensqualität«, sagt Christiane Busch, die Leiterin des Berliner Büros. Eines hat für sie in letzter Zeit spürbar zugenommen: »Die Vehemenz, mit der von Auswanderung gesprochen wird. Man hat bei vielen den Eindruck: Es muss jetzt sein.« Eine bessere Lebensqualität erhoffen sich viele Deutsche von der Schweiz, Frankreich und Spanien. Nach den USA sind dies die populärsten Zielländer.

Während die Zuwanderung weiterhin ein Reizthema in der Politik darstellt, bleibt die Abwanderung – vielleicht auch gerade deswegen – relativ unbeachtet. »Deutschland integriert in jedem Jahr eine Stadt in der Größe von Nürnberg«, ließ der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber bereits von verschiedenen Podien verlauten. Aber das ist eben nur die halbe Wahrheit. Nach Angaben des statistischen Bundesamts zogen allein im Jahr 2003 rund 127 000 Bundesbürger ins Ausland. In Stoiberscher Mathematik ausgedrückt, hieße das: Eine Stadt in der Größe von Regensburg macht sich davon. Die Dunkelziffer soll höher liegen, denn nur wer sich korrekt abmeldet, wird auch gezählt. Zuzüge haben die Statistik bisher weitestgehend wieder ausgeglichen.

Das Institut für Wirtschaft und Gesellschaft Bonn wies in der Untersuchung »Deutschland – ein Auswanderungsland?« aber bereits darauf hin, dass in den letzten Jahren ohne Spätaussiedler aus Osteuropa die Bilanz negativ gewesen sei. »Wenn sich die Gesellschaft nicht dynamisiert und wieder optimistischere Züge erhält, werden sich die Abwanderungstendenzen verschärfen«, prophezeit der Freiburger Migrationsforscher Dieter Oberndörfer. Die Schwelle, die es beim Sprung in ein anderes Land zu überwinden gilt, sei dabei so niedrig wie noch nie: Globalisierung und Multikulturalität gehörten bei vielen inzwischen wie selbstverständlich zur persönlichen Erfahrung. Oberndörfer und andere fordern seit Jahren, Deutschland als Zuwanderungsland zu profilieren, um derlei »demografische Schieflagen« auszugleichen. Die Regierung nutzt die Demografie derweil als Argument für den Sozialabbau und die Etablierung einer neuen Bevölkerungspolitik.

Im herbstlichen Berlin plant Andreas Tillack unterdessen seinen Abflug ins sonnige Kalifornien. Jetzt geht es erst mal darum, die Einreiseformalitäten zu erledigen: Impfungen nachholen, seitenweise Anträge ausfüllen, ein polizeiliches Führungszeugnis besorgen. Aber der Aufwand stört ihn nicht. »Man muss wahrscheinlich dort auch kämpfen und seine Ziele hart verfolgen«, fügt er im Brustton der Überzeugung an. Tatendrang und praller Optimismus – mit dieser Mischung haben sich schon Millionen vor ihm als USA-Einwanderer empfohlen.

Neuerdings wartet das US-Fernsehen mit einer weiteren Möglichkeit auf, an eine Green Card zu kommen. In »Win the Green« (»Gewinne die Green Card«) stellen sich die Kandidaten aus dem Fernsehen sattsam bekannten Herausforderungen wie dem Kakerlakenbad und halsbrecherischen Stunts. Zumindest diese Art von Kampf ist Andreas Tillack erspart geblieben.