Opfer des Ausstiegs

Nach dem Todesfall während des jüngsten Castor-Transportes sollen die Atomkraftgegner über ihre Widerstandsformen nachdenken. Dabei starb der Aktivist offenbar, weil der Zug zu schnell fuhr. von stefan wirner

Der Bundesumweltminister hatte schnell entschieden, wem ins Gewissen zu reden sei. Jürgen Trittin (Grüne) mahnte nach dem Tod des französischen Atomkraftgegners »alle Beteiligten zur Besonnenheit«. Kein Ziel rechtfertige es, »das eigene Leben oder die Gesundheit anderer zu gefährden«, erklärte er am 7. November, am Tag des tödlichen Unfalls. Rührend, wie sich Trittin gerade in dieser Angelegenheit um die Gesundheit seiner Mitmenschen sorgt.

Der Bundesvorstand der Grünen äußerte seine »Trauer und Betroffenheit«, die niedersächsischen Grünen sagten ihre für den 8. November angesetzte Fraktionssitzung in der Nähe der Transportstrecke im Wendland ab und forderten eine »besonnene Reaktion von Atomkraftgegnern und Polizei«. Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Landtag, Rebecca Harms, die die Jeanne d’Arc des Widerstands gegen die Transporte mimt, obwohl ihre Partei als Teil der Bundesregierung für diese verantwortlich ist, sagte: »Ich glaube, dass wir nicht über unsere Ziele, wohl aber über unsere Wege zum Ziel nachdenken und sprechen müssen.« Die Süddeutsche Zeitung schließlich forderte am Dienstag voriger Woche im Stile eines Regierungsblattes, die Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg solle sich »expressis verbis von den Blockierern distanzieren«.

Fast schien es, als würde der Tod des 21jährigen Sébastien Briat während des jüngsten Transportes von Castoren aus der Wiederaufbereitungsanlage in La Hague ins Zwischenlager Gorleben nahe dem französischen Ort Igney-Avricourt nicht nur groteske grüne Fraktionssitzungen an der Transportstrecke, sondern vor allem Formen des Widerstands wie Gleis- und Sitzblockaden diskreditieren. Nach den Neuigkeiten vom vergangenen Wochenende sieht die Sache jedoch etwas anders aus.

Denn wie Spiegel-online berichtet, sei Briat nach Angaben französischer Atomkraftgegner zum Zeitpunkt des Unfalls nicht an das Gleis angekettet gewesen. Die vier französischen Gleisbesetzer hätten sich beim Herannahen des Zuges rechtzeitig aus ihren Verschlüssen lösen können, sie seien jedoch von der »Schnelligkeit der Ereignisse« überrascht worden. Briat sei vom Luftwirbel des Zuges erfasst und auf das Gleis geschleudert worden. Der Zug überfuhr Briat, auf der Fahrt in ein Krankenhaus verstarb er. Hinzu kam offenbar, dass ein Hubschrauber, der dem Zug vorausflog, um etwaige Hindernisse auf der Strecke aufzuspüren, zur Zeit des Unglücks zum Tanken abgedreht hatte. Die französische Staatsanwaltschaft soll diese Version des Unfalls »im Kern« bestätigt haben.

Demnach kostete nicht allein die waghalsige Aktion der Atomkraftgegner Briat das Leben, sondern die zu hohe Geschwindigkeit des Zuges. Er fuhr mit annähernd 100 Stundenkilometern, obwohl er, wie die französische Bahngewerkschaft Sud Rail kritisierte, als Gefahrguttransport vor jedem »auftauchenden Hindernis« hätte anhalten können müssen. Ein Sprecher der Gewerkschaft sagte der Zeitung Libération, in der kurvenreichen Strecke in Lothringen hätte der Zug nur 20 oder 30 Stundenkilometer fahren dürfen. Die französischen Atomkraftgegner sagten der Zeitung zufolge: »Die Verantwortung aller Beteiligten, auch die unserige, wird ermittelt werden müssen.«

In Deutschland wurde nach dem Unfall vor allem von den Atomkraftgegnern gefordert, über ihre Widerstandsformen nachzudenken, während ein Aussetzen der Castor-Transporte überhaupt nicht zur Debatte stand. »Vor allem die Grünen haben in dieses Horn hineingeblasen«, sagte ein Sprecher der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg der Jungle World. »Aber wir können den Gruppen nicht vorschreiben, was sie tun sollen. Auch in Deutschland ist streckenweise kein Hubschrauber vorausgeflogen, und der Zug fuhr mit defekten Bremsen, aber alles soll weitergehen wie eh und je.«

Eine Sprecherin der Organisation Robin Wood, die sich, anders als die Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg, an Gleisblockaden beteiligt, meinte: »Sicher ist eine Denkpause vonnöten, aber nicht mit dem Ziel, alles in Frage zu stellen, was bisher gemacht wurde.« Sie wies daraufhin, dass in den USA solche Transporte nur in Schrittgeschwindigkeit fahren dürften.

Auch die Gruppe Widersetzen, die aus dem Wendland kommt und Sitzblockaden organisiert, beschäftigt sich mit den Vorwürfen an die Anti-Atomkraft-Bewegung. »Wir haben nach der Nachricht vom Tod Briats überlegt, wie wir damit umgehen sollen«, erzählt Jens Magerl von der Gruppe. »Nach ausgiebiger Beratung haben wir uns gesagt, von uns geht keine Aggression aus, deshalb machen wir weiter. Jetzt erst recht.«

Als die Nachricht am Sonntag voriger Woche das Wendland erreichte, habe die Polizei die Atomkraftgegner zu einem Runden Tisch geladen. Der Einsatzleiter Friedrich Niehörster habe sich besorgt gezeigt, dass die Situation eskalieren könnte, berichtet Magerl. Bei der späteren Räumung einer Straßenblockade kurz vor dem Zwischenlager habe die Polizei jedoch ihr »Stiefelspitzengefühl« demonstriert und rücksichtslos durchgegriffen. »Es ist schon eigenartig«, sagt Magerl. »Diese Transporte sind äußerst gefährlich, die Castoren sind nicht bruchgetestet. Es bestehen größte Zweifel an der Tauglichkeit der Behälter, sie werden mit 100 Stundenkilometern durch das Land gefahren, und es gibt keine Kontrolle, was auf den Gleisen passiert. So verantwortlich gehen die damit um, und uns sagen sie, wir sollen besonnen sein.«

Dass einige Menschen der Atompolitik der Grünen mittlerweile skeptisch gegenüberstehen, lässt Rebecca Harms keine Ruhe. »Das Vertrauen in die Ernsthaftigkeit von uns Politikern, die heute zum Ausstieg aus der Atomenergie arbeiten, hat arg gelitten«, sagte sie. Wie aber sieht die Arbeit am Atomausstieg aus? Trittin etwa bezeichnet die Castor-Transporte als notwendig, weil es sich um deutschen Müll handele, der zurückgenommen werden müsse. Gleichzeitig lässt er neuen Müll nach Frankreich schaffen, damit der Nachschub nicht ausgeht. Die französischen Grünen, die nicht an der Regierung beteiligt sind, sprechen sich für ein Moratorium der Transporte aus, während den deutschen Grünen, die mitregieren, nichts anderes einfällt, als ihre Hilflosigkeit zu bekunden und die Atomkraftgegner zu ermahnen.

Wer sich ein realistisches Bild über den Stand des angeblichen Ausstiegs machen will, sollte sich die Homepage des deutschen Atomforums (www.kernenergie.de) ansehen. Von Ausstiegsstimmung ist dort keine Spur. Vielmehr kann man Forderungen an die Bundesregierung lesen, Gorleben endlich zum Endlager zu erklären, statt nach anderen Standorten zu suchen. Die optimistischen Überschriften der Beiträge lauten: »Deutsche Kernkraftwerke 2003 weltweit führend« oder »Kernenergie europaweit im Aufwind«. Und den Gegnern viel Glück im Fahrtwind.