Bohnen essen und Salsa tanzen

Der Filmessay »Suite Havana« will »Koyaanisqatsi« ins Kubanische übersetzen. von jessica zeller

Wenn Havanna erwacht, bleibt es erstmal ziemlich ruhig in der Stadt. Der Leuchtturm von Morro dreht sich geräuschlos um sich selbst, der Arbeiter Ivan tritt schweigend in die Pedale seines Klapprads, und auch der Straßenlärm ist erträglich. Zu knapp ist das Benzin, zu wenige Autos sind unterwegs, als dass es hier zum Stau im morgendlichen Berufsverkehr kommen könnte. Es scheint, als ob erst das schrille Klingeln des Weckers am Bett des kleinen Francisquito um halb acht die Stadt und ihre Bewohner zum Leben erweckt. Der zehnjährige Junge, der sich zunächst schlaftrunken auf seiner Matratze wälzt und dann nach dem Aufstehen von seiner Großmutter einen Milchkaffee serviert bekommt, ist einer der zwölf ganz normalen Bewohner Havannas, die der kubanische Regisseur Fernando Pérez einen Tag lang mit der Kamera begleitet. Das Ergebnis ist der Film »Suite Havana«, achtzig Minuten, im Spannungsfeld von Salsa tanzen und am Fließband in der Fabrik stehen; auf’s Dach steigen und den Vollmond betrachten und sich mit dem Flugzeug ins nicht weit entfernte Reich der Träume, nach Miami verdrücken.

Die einzelnen Geschichten überkreuzen sich dabei im Verlauf des Films ständig. Franscisquito kauft die Erdnüsse von Amanda, der Rentnerin, die damit ihr mageres Einkommen aufbessert; der Arzt Juan Carlos verabschiedet seinen Bruder Jorge Luis in die USA und begegnet auf dem Weg zum Flughafen den anderen Leuten des Films.

Obwohl Fernando Pérez ohne ein Drehbuch gearbeitet hat und die Hauptdarsteller tatsächlich ganz gewöhnliche Habaneros sind, überließ der Regisseur nicht alle Einstellungen dem Zufall: »Natürlich ist hier nicht von einem improvisierten Stil die Rede, der aus dem Nichts auftauchte. Die Regie sollte das ganze Arsenal des Spielfilms ausschöpfen, weil wir ausdrucksstarke Bilder schaffen wollten, die eine bestimmte Atmosphäre oder Gemütszustände widerspiegeln«, so Pérez im Gespräch mit der kubanischen Filmkritikerin Vivian Martínez Tabares. Der Film sei deshalb nicht mit Handkamera oder gar versteckter Kamera oder ohne künstliches Licht gedreht worden; einen künstlerischen Gestaltungswillen gibt es schon. Dass die Akteure dabei so gut wie gar nicht kommunizieren und nur authentische Hintergrundgeräusche und spärlich eingesetzte Musik den akustischen Rahmen für den Film abgeben, war eine bewusste Entscheidung.

Pérez bezieht sich in seinem Film explizit auf die Trilogie des US-amerikanischen Regisseurs Godfrey Reggio »Koyaanisqatsi«, »Powaqqatsi« und »Naqoyqatsi«, die in langen abstrakten Einstellungen mit minimalistischer Musik untermalt, die Zerstörung der Erde und ihrer Bewohner durch die Industriegesellschaft anklagen. Filme, die für Pérez »Meilensteile in der Geschichte des Dokumentarfilms« markieren. Allerdings hätte es einerseits die materiellen Ressourcen für ein vergleichbares Projekt in Kuba nicht gegeben, zum anderen sei auch seine eigene Zielsetzung weniger ganzheitlich-erklärend gewesen: »Was von Reggio nach und nach übrig blieb«, so Pérez, »waren die Idee einen Dokumentarfilm ohne Interviews und Dialoge zu drehen, und die Gewissheit, dass in kleinen Dingen und Handlungen oft unerwartete Dimensionen der Realität stecken.«

Ein Glück im Unglück könnte man meinen, denn während Reggios Vorlage oft genug in Kitsch und Esoterik abgleitet, kann Pérez vielleicht gerade wegen seiner bescheideneren Ausrichtung diese Probleme vermeiden. Er filmt das, was er kennt: die Wohnviertel der Stadt, Menschen, die dem Regisseur vorher mal flüchtig begegnet waren und die er nun dazu brachte, Teil seines Projekts zu sein. Pérez zeigt in »Suite Havana« Situationen, die, so alltäglich sie erscheinen, doch für das gegenwärtige Kuba typisch sind, wie das ständige Essen von Reis mit Bohnen; die Autos, die aus einer Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zu stammen scheinen und die als Taxis fungieren, weil es nicht genügend Busse gibt; die jubelnde Masse Kubaner beim abendlichen Baseballspiel und der Liedermacher Silvio Rodriguez, der zur selben Zeit im Fernsehen den mariposas, den Schmetterlingen, hinterher singt.

So persönlich die Aufnahmen teilweise auch sind, sie entbehren niemals einer gewissen Authentizität. Das Kuba von Pérez ist nicht das sozialromantische eines Wim Wenders und hat auch nichts gemein mit den Vorstellungen westlicher Solidaritätsgruppen. Die klassischen Topoi der Sozialkritik – Prostitution, Rassismus und wachsende soziale Ungleichheiten – sucht man in diesem Film vergebens. Pérez begründet das so: »Ich bin ihnen nicht ausgewichen. Sie hatten einfach keinen Platz. In der Anfangsphase untersuchten wir viele mögliche Havannas, die hätten erzählt werden können. Suite Havana entspricht dem, was uns am meisten interessierte.« Dennoch ist die soziale Realität ein ständiges Thema. Seine Entscheidung, nur wenigen Menschen unaufdringlich zu folgen, verdeutlicht auch die Ambivalenz des alltäglichen kubanischen Lebens. Gerade die Abschiedsszene am Flughafen von Havanna, wo die gesamte Familie ihrem verlorenen Sohn Jorge Luis nachweint, der vermutlich für immer in die USA abreist, ist dafür ein gutes Beispiel. Hierin spiegelt sich zugleich die individuelle Geschichte der Auswanderung als auch der Traum vieler Kubaner nach einem besseren Leben anderswo. Auch die anderen Figuren des Films entsprechen keiner einheitlichen Typologie. Ivan, der Arbeiter auf dem Fahrrad, ist beispielsweise nicht nur in der Kantine eines Krankenhauses tätig. Nach Feierabend tritt er als Sänger in einer Bar auf. Dass der junge Mann als Transvestit lateinamerikanische Lieder zum Besten gibt, scheint seine Gattin nicht groß zu stören. Liebevoll schminkt sie ihm nach der Vorführung das Gesicht ab und bügelt anschließend seine glitzernde Garderobe.

Dass die vielen parallel erzählten Geschichten den Zuschauer oft verwirren – wer bewacht Tag und Nacht das John Lennon-Denkmal und wer arbeitet nebenberuflich als Clown für die Schulkinder? –, muss eigentlich als Stärke des Films interpretiert werden. Anders als in seinem letzten Film »Das Leben ein Pfeifen« von 1998, mit dem Pérez international bekannt wurde und in dem er die grotesken Lebensgeschichten weniger Personen detailliert nachzeichnet, sind die Darsteller in »Suite Havana« weniger individuell porträtiert. Der Film ist eine facettenreiche Momentaufnahme der Stadt und ihrer Bewohner. Dass der Regisseur dafür im letzten Jahr beim Filmfestival von Havanna den Preis für den besten Film, die beste Regie, die beste Musik und den besten Ton erhielt, erscheint da nur konsequent.

»Suite Havana« (Kuba 2003). Regie: Fernando Pérez. Filmstart: 25. November