Tiere wie ich

Grenzerfahrungen mit der Kreatur. von stefan ripplinger

Mit Tieren geht es mir ganz genau so wie mit Menschen. Ich verstehe sie nicht, und sie verstehen mich nicht. Anders als Menschen erinnern sie mich aber an mich selbst. Das ist manchmal schrecklich, oft rührend; es hat einer doch am meisten Mitleid mit sich selbst.

Mit Rührung denke ich noch jetzt an die Schildkröte, die immer wieder aus unserem Garten floh. Wir mästeten sie mit Kopfsalat und erdrückten sie fast mit unserer Zärtlichkeit, aber ihr schien das nicht zu gefallen. Ließen wir sie aus den Augen, war sie auch schon davongekrabbelt. Sie besaß etwas so Ruhiges, Bestimmtes, Zentrifugales. Nachbarn brachten sie ein ums andere Mal zurück. Solche schlechten Erfahrungen konnten sie aber nicht entmutigen. Zurückgesetzt auf den Rasen, krabbelte sie gleich wieder los, nie zum Haus, nicht einmal zum Salatbeet hin, stets mit deutlicher Tendenz zum Jenseitigen.

Mein Vater bohrte ein Loch in ihren Panzer, ein Faden wurde angeknüpft. Sie machte sich auf den Weg. Doch nun hing sie an dem Faden, er spannte an, wir gaben aus Mitleid Spiel, knüpften, um sie nicht zu verdrießen, einen längeren Faden an, und eines Tages war sie mit sämtlichen Fäden ausgerissen. Ich erkenne sie noch heute in den Fliegen und Motten wieder, die sich an Scheiben wundstoßen. Doch die wollen bloß zum Licht. Wohin wollte sie? »Glad I’m not home tonight«, ist mein Lieblingsvers bei Cpt. Beefheart.

Zwanzig Jahre lang pflegte ich keinen Umgang mit Tieren mehr, bis ich im Sommer 1992 meine Schwester in Charlottesville, Virginia, besuchte. Sie hatte einen Job in einer Klinik, ging frühmorgens aus dem Haus. Kaum schloss sich die Tür hinter ihr, rüttelte Max so lange an seinem Gatter in der Küche, bis ich erwachte. Max, der Hund.

Dieses Tier hatte, im Gegensatz zur Schildkröte, ein auffällig zentripetales Streben. Es wich mir nicht von der Seite. Morgens spazierten wir über den nature trail, dann gab ich Max Futter. Dazu brauchte er mich, und das begriff ich. Doch danach wollte er sich nicht in seine Ecke verziehen, sondern wäre mir noch ins Badezimmer oder ins Bett gefolgt, hätte ich ihn nicht jedesmal mit sanfter Gewalt hinausgedrängt.

Für Anhänglichkeit oder gar Treue habe ich das nicht gehalten, wie ich ohnehin Tieren keine Tugenden unterstelle, es sei denn ganz schlichte, im Sinne Chamforts, der sagte: »Aufrichtige Gefühle sind so selten, dass ich oft auf der Straße stehen bleibe, um einem Hund zuzuschauen, der seinen Knochen benagt.« Ich wusste nicht, was Max von mir, er nicht, was ich von ihm erwartete. Er von mir nicht nur Gutes, denn wenn ich den Zeigefinger hob, um ihm zu bedeuten, dass er auch einmal, wie andere Hunde und Schildkröten, irgendwo hinlaufen könnte, schreckte er ängstlich zurück. Wir wollten uns verstehen, missverstanden uns aber eben deshalb auf Schritt und Tritt. Diese Situation hatte etwas bedrückend Komisches.

Es war mir, als ob wir uns gegenseitig jenem Test Alan Turings unterwarfen, der erweist, ob eine Maschine Intelligenz besitzt. Der Test besteht in Kommunikation; antwortet die Maschine verständig, muss sie als intelligent angesehen werden. In dieser Hinsicht war ich eine herbe Enttäuschung für Max.

Denn es scheint unzweifelhaft, dass er mich testen wollte, als er mir eines Tages Knochen aufs Sofa legte. Ich erkannte zwar, dass sie etwas bedeuten sollten, aber nicht, was. Vielleicht »Hast du Hunger?«, »Lass uns teilen«, »Willst du spielen?«, »Sei mein Freund«, vielleicht aber auch »Na, alter Knochen?« oder »Did these bones cost no more the breeding, but to play at Loggets with ’em?« Ich weiß es bis heute nicht.

Max kann ich nicht mehr fragen, er verstarb kürzlich. Als ich ins Taxi stieg, das mich zum Flughafen brachte, schaute er mir aus dem Fenster nach wie eine besorgte Ehefrau. Aber ich kann mich täuschen.

Zehn Jahre später wurde ich wieder von einem Tier geweckt. Hinter dem Stapel mit alten Zeitungen knusperte es. Ich sprang auf, schlug gegen den Stapel, eine Maus schoss unters Bücherregal. Außer mir vor Schrecken, schleppte ich sechs Jahrgänge angeknabberter Jungle World in den Hinterhof, weitere fünf Minuten später fragte ich atemlos, mit wirren Haaren, bei Woolworth nach Mausefallen. Der Verkäufer versuchte, seine Verwunderung mühsam zu verbergen. Vier Fallen mit geröstetem Speck spannte ich in dem kleinen Zimmer auf.

Auch Männer werden einmal in ihrem Leben schwanger. Das ist, wenn sie den Tod auszutragen haben. Ich stelle mir das wie in einem »Alien«-Film vor. Irgendwann bricht das Monster durch die Bauchdecke. Aber wie kam ich darauf, dass eine winzige Maus ein Monster und gar der Tod sein könnte? Vermutlich in einer Art von metonymischer Übertragung. Auf alten Stichen sieht man Schäferinnen und Schäfer an Grabmälern trauern. Auf dem Stein lacht aber immer eine Maus, denn einen Nutznießer hat jede Leiche. Meine Wohnung, in der ich fünf Jahre lang glücklich war, war zu einem Mausoleum geworden. Ein Tierchen sprang mir übers Gesicht, als ob ich tot wäre. Ich wollte dieses Tierchen umbringen.

Vielleicht ahnte die Maus das; sie verschmähte den Speck. Wenn ich von meinen Spaziergängen zurückkam, überprüfte ich die Fallen. Eine ganze Woche lang blieben sie unberührt. Dann war eine verschwunden. Als worst scenario hatte ich angenommen, die Maus könnte nicht sofort tot sein und fiepend und blutend in der Klammer stecken. Doch es war noch schlimmer gekommen. Ich nahm die Kehrschaufel und schlich umher. In einer Ecke fand ich sie. Die Maus hatte sich mit dem Schwanz in der Plastikfalle verhakt, sie hinter sich her durch die Stube gezogen und stak nun zwischen Regal und Wand fest. Ich schlug zu, aber daneben, die Falle zerbrach, die Maus sprang hinter die Bücher.

Wenige Wochen später zog ich aus und litt noch lange unter der Vorstellung, sie könnte sich in einem Karton versteckt haben und mit mir umgezogen sein. Doch hier hatte ich es mit einer gemischt zentripetal-zentrifugalen Strebung zu tun. Dieses Wesen kam nahe heran, war dann aber auch schnell wieder weg, eine gespenstische Erscheinung.

Tiere haben etwas von Zerrspiegeln. Ich erkenne mich in ihnen wieder und weiß nicht, ob ich lachen, ob ich weinen soll. Seltsam kommen mir deshalb die Leute vor, die mit ihren Haustieren sprechen. Denn was sollte man sich selbst sagen, das man nicht schon wüsste?