Unruhe im Musterstaat

Das Freihandelsabkommen mit der EU gefährdet die tunesische Industrie. In einigen Betrieben kam es bereits zu Protesten gegen drohende Entlassungen. von bernhard schmid, paris

Aus der Sicht der Europäischen Union gilt Tunesien geradezu als Musterstaat. Das Land sei »ein Modell, das andere Staaten der Region nachahmen sollten«, riet Manfredo Fanti, als er sein Amt als EU-Vertreter in Tunis antrat. Als erster unter den südlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers hat Tunesien bereits am 17. Juli 1995, also noch ein halbes Jahr vor der Konferenz zur »euro-mediterranen Partnerschaft« in Barcelona, ein Freihandelsabkommen mit der EU abgeschlossen. Bis zum Jahr 2010 sollen dessen Bestimmungen voll wirksam werden.

Tunesien, das keine Erdölvorkommen aufweist, hat sich seit längerem auf aus den westlichen Staaten abwandernde Produktionsbereiche spezialisiert. Textilbetriebe siedelten sich hier ebenso an wie die Zulieferer der Automobilindustrie. Zeitweise wurde auch auf die Fertigung von elektronischen Komponenten abgestellt, doch wurde hier rasch der Konkurrenzdruck durch die noch billiger produzierende ostasiatische Industrie spürbar. Hinzu kommen der Tourismus und die damit zusammenhängenden Dienstleistungsbranchen.

Bichara Khader, der Herausgeber eines 2001 in Paris erschienenen Sammelbands zur »euro-mediterranen Partnerschaft aus der Sicht des Südens«, hat für mehrere Länder einen »Öffnungsgrad« der jeweiligen Ökonomien errechnet, indem er die Summe der Importe und Exporte ins Verhältnis zum Bruttosozialprodukt stellte. Demnach beträgt dieser »Öffnungsgrad« für Mexiko heute 22 Prozent, in Algerien sind es 43 Prozent, in Tunesien aber bereits 82 Prozent.

Das jährliche Durchschnittseinkommen ist in Tunesien etwas höher als in Marokko und Algerien, doch der Binnenmarkt ist bei zehn Millionen Einwohnern relativ klein. Zudem blieb jede wirtschaftliche Süd-Süd-Integration aus. 70 Prozent seines Außenhandels wickelte Tunesien zu Anfang des Jahrzehnts mit der EU ab, Algerien dagegen kauft nur zwei Prozent der auf legalem Wege exportierten tunesischen Waren. Die stärkere Bindung an die EU dürfte diese einseitige Ausrichtung auf die Importeure im Norden noch verstärken.

In ihrem Umgang mit dem »Modellstaat« Tunesien stören sich die EU-Bürokraten weder an der autokratischen Herrschaft Präsident Zine al-Abidine Alis noch an der mafiösen Kartellierung der tunesischen Ökonomie. Die lukrativsten Bereiche werden unter größeren Familienclans aufgeteilt, die zur erweiterten Verwandtschaft von Präsident Ben Ali gehören. Diese Clans reißen sich etwa die frisch privatisierten Staatsunternehmen unter den Nagel oder die ebenfalls jüngst vom Staat ausgegebenen Importlizenzen für europäische Fahrzeuge, sehr zum Missfallen auch eines Teils der Mittelschichten und der Bourgeoisie.

Zudem gefährdet die übermächtige wirtschaftliche Konkurrenz aus dem Norden, mittlerweile aber auch aus China, viele tunesische Unternehmen. Zum Jahreswechsel 2004/05 läuft das internationale Multifaserabkommen aus, das den Textilexporteuren bislang Importquoten in den westlichen Industrieländern garantierte. Tunesien wird von der französischen Wirtschaftspresse zu den zehn Ländern gerechnet, die in diesem Kontext am meisten bedroht sind. Etwa die Hälfte der 500 000 Industriearbeiter ist im Textilsektor beschäftigt, der derzeit 50 Prozent der tunesischen Exporterlöse erwirtschaftet.

Und der nächste Schlag für die tunesische Ökonomie wird ab 2008 erfolgen. Dann ist das Land nämlich aufgefordert, im Rahmen des Freihandelsabkommens mit der Europäischen Union seine Zollschranken abzubauen. Bis zum Jahr 2010 soll so eine Freihandelszone zwischen der EU und ihren südlichen Nachbarn entstehen.

Bislang hat die tunesische Ökonomie noch von den Folgewirkungen des Abkommens profitiert, da die von der EU gewährten Exporterleichterungen die Ansiedlung bestimmter Wirtschaftszweige im Lande erleichterten. Doch in den Jahren ab 2008 muss nun auch Tunesien seinen Markt öffnen und damit Schutzzölle abbauen, die bisher noch lokale Produktionen gegen die übermächtige wirtschaftliche Konkurrenz aus dem Norden abschirmten. Selbst die Weltbank sagt in diesem Zusammenhang den Verlust von mindestens 100 000 Arbeitsplätzen voraus.

Doch in jüngerer Vergangenheit kam es zu Protesten gegen drohende Entlassungen. So führten 17 Arbeiter der Textilfirma Icab in Moknine, nahe der tunesischen Ostküste, im November 2002 einen 27tägigen Hungerstreik gegen den Verlust ihrer Jobs durch, nachdem die tunesisch-amerikanischen Eigentümer die Fabrik von heute auf morgen schließen wollten.

Die Textilfabrik Hotrifa bei Moknine, die in holländischem Besitz war und zu Jahresanfang 2004 in die Türkei verlagert wurde, war 54 Tage lang von 270 Arbeitern und Arbeiterinnen besetzt. Die Fabrik wurde von der Polizei regelrecht belagert. Am Ende war es die tunesische Einheitsgewerkschaft UGTT, die dem Konflikt ein Ende setzte: Sie drohte dem örtlichen Gewerkschaftschef Monji Ben Salah mit dem Verlust von Amt und Job, wenn er weiterhin den Arbeitskampf unterstütze.

Im Gegenzug besetzten die Beschäftigten der Textilfabrik Sotapex in Sousse im April 2004 einen Monat lang die Räume der UGTT. Die Bürokratie des Dachverbands ist eng mit dem Staatsapparat verbunden, auch wenn es innerhalb der UGTT einen kämpferischen linken Flügel gibt, der durch die Bewegung gegen den Irak-Krieg Aufschwung bekam. Basisgewerkschafter unterstützen, zusammen mit den wenigen nicht vom Regime kontrollierten Vereinigungen wie der Menschenrechtsliga LTDH und dem tunesischen Attac-Ableger Raid, die »wilden« Streiks, so gut sie können. Im Gegenzug sind solche Vereinigungen immer stärker mit polizeilicher Repression konfrontiert.

Auch innerhalb der UGTT selbst kommt es jetzt erstmals zu nennenswerten Konflikten. Anfang September 2004 beschloss das Führungsgremium des Gewerkschaftsdachverbands, wie üblich seine Unterstützung für die Kandidatur von Staatspräsident Ben Ali kundzutun, der am 24. Oktober nach offiziellen Angaben mit 94,5 Prozent der Stimmen wiedergewählt wurde. Doch zum ersten Mal votierten acht Mitglieder des 64köpfigen Gremiums offen dagegen, und fünf weitere enthielten sich der Stimme. »Nahezu ein Drittel der Basismitglieder«, schreibt die konservative französische Tageszeitung Le Figaro, sollen in Opposition zum UGTT-Apparat stehen.

Bereits solche vereinzelten Proteste stellen die repressive Stabilität Tunesiens in Frage. Kritik an Unterdrückung unterließ die EU ebenso wie eine Distanzierung von Ben Alis eigenwilliger Auffassung von freien Wahlen. »Es scheint, als wollten sie, dass er für immer an der Macht bleibt«, kommentierte der mehrfach inhaftierte kommunistische Aktivist Hamma Mammami.