Konfrontation in Kiew

In der Ukraine protestieren Hunderttausende gegen Wahlmanipulationen. Der Machtkampf durchzieht alle Institutionen des Landes. Auch Russland, die EU und die USA mischen kräftig mit. von franziska bruder

Für eine Revolution fehlt dem Oppositionskandidaten Victor Juschtschenko nach Ansicht des polnischen Präsidenten Aleksander Kwasniewski die berufliche Qualifikation. »Juschtschenko ist kein Revolutionär, er war Chef der Ukrainischen Nationalbank«, sagte Kwasniewski am vergangenen Freitag beschwichtigend auf dem Weg zu seiner Vermittlungsmission in Kiew. Der noch amtierende Präsident Leonid Kutschma scheint sich weniger sicher zu sein: »Je eher diese Revolution, diese so genannte Revolution, vorbei ist, desto besser für das Volk.«

Kutschma hofft, dass die Opposition das offizielle Ergebnis der Wahlen doch noch akzeptiert. Die Wahlkommission sprach Victor Janukowitsch, dem von Kutschma gewünschten Nachfolger, den Sieg bei den Stichwahlen zur Präsidentschaft am vorletzten Sonntag zu. Er soll 49,46 Prozent, Juschtschenko dagegen nur 46,61 Prozent der Stimmen erhalten haben.

Bereits am Wahlsonntag hatten die fast 5 000 internationalen Wahlbeobachter und die Opposition von massiven Wahlfälschungen gesprochen. Viele Ukrainer, vornehmlich im Westen des Landes, konnten beispielsweise ihre Stimme nicht abgeben, da sie nicht in den Wahllisten standen. Unter anderen war hiervon das Oberhaupt der griechisch-katholischen Kirche in L’wiw, Kardinal Ljubomyr Huzar, betroffen.

Seit dem Wahlabend mobilisiert die Opposition ihre Anhänger. Täglich finden Demonstrationen und Kundgebungen mit bis zu 500 000 Teilnehmern in Kiew und in anderen Städten vornehmlich der Westukraine statt. Die Hauptverkehrsstraße Kiews, der Chreschtschatyk, hat sich in eine Zeltstadt verwandelt, in der Hunderte vornehmlich junger Menschen campen, die der Jugendbewegung Pora (Es wird Zeit) angehören. Auf dem Platz der Unabhängigkeit finden Konzerte statt, und am Donnerstag der vergangenen Woche sprach dort der ehemalige polnische Präsident Lech Walesa, begeistert begrüßt von der Menschenmenge, die vor allem die ukrainische Flagge, Juschtschenko-Transparente und EU-Fahnen im kalten Wind flattern ließ.

Erste Erfolge kann die Opposition verbuchen. Das Oberste Gericht der Ukraine hat der Zentralen Wahlkommission verboten, die Wahlergebnisse zu veröffentlichen. Es will sich zunächst mit der Klage Juschtschenkos befassen. Bis das geschehen ist, kann sich Janukowitsch nicht als Präsident vereidigen lassen. Derzeit könnte er seinen Amtssitz ohnehin nicht erreichen, denn der wird von Oppositionellen blockiert.

Am Samstag beschloss das Parlament, das Wahlergebnis für ungültig zu erklären und forderte Kutschma auf, die Wahlkommission aufzulösen. Die Entscheidung ist rechtlich nicht bindend, verstärkt aber den politischen Druck auf die Regierung.

Juschtschenko hat sich bereits am Dienstag der vergangenen Woche zum neuen Präsidenten ernannt und die ersten Dekrete erlassen. Er bestimmte ein Ausführungskomitee mit 15 Mitgliedern, das nun eine »Nationale Selbstverteidigung« organisiert und für die »Sicherstellung der Rechtsordnung für die Bürger und deren Schutz« sorgen soll. Nach Angaben des Leiters des Komitees, Oleksander Zintschenko, steht man mit den »Sicherheitsorganen« in Verhandlungen.

Das Komitee organisiert ebenfalls ein allukrainisches Streikkomitee, an dessen Spitze Anatolij Kinach berufen wurde, Chef der Partei der Industriellen und Unternehmer der Ukraine. Mit diesem Komitee soll ein landesweiter politischer Streik koordiniert werden, um die Veröffentlichung der realen Wahlergebnisse durchzusetzen. Im ganzen Land sollen die Verbindungsstraßen und auch die Regierungsgebäude blockiert werden.

Bereits die Berufung eines Unternehmervertreters an die Spitze des Streikkomitees zeigt, dass eine soziale Revolution nicht auf dem Programm steht. Der organisierte Kern der Opposition ist das Anfang 2002 gegründete Parteienbündnis Nascha Ukrajina (Unsere Ukraine), in dem Parteien der Mitte und der Rechten vertreten sind. Die Bewegung auf der Straße besteht überwiegend aus Menschen, denen es vor allem um einen Bruch mit dem Kutschma-Regime und dessen autoritärem, korrupten System geht.

Für beide Seiten spielt auch die Religion eine wichtige Rolle. In Kiew sprachen griechisch-orthodoxe Geistliche mit den Kundgebungsteilnehmern Morgengebete. Die russisch-orthodoxe Kirche hat in der Vergangenheit die ukrainischen Kirchen zwangsweise zu integrieren versucht. Viele Geistliche der griechisch-katholischen Kirche, die in Galizien vorherrschend ist, und der griechisch-orthodoxen Kirche, deren Patriarch seinen Sitz in Kiew hat, sprachen sich gegen den von Russland unterstützten Kandidaten Janukowitsch aus. Anhänger der russisch-orthodoxen Kirche hingegen äußerten mehrfach ihre Unterstützung für Janukowitsch.

Neben der Zeltstadt auf dem Chreschtschatyk existiert auch eine von Janukowitsch-Anhängern nicht weit davon entfernt. Sie kommen aus dem Osten des Landes und wollen nach eigenen Angaben in der Hauptstadt »für Ordnung sorgen«. Janukowitsch kündigte an, dass weitere Hunderttausende seiner Anhänger anreisen würden.

Unterstützung erhält Janukowitsch aus der Ostukraine, vor allem aus der Region um Donezk. Dort machte er zu Sowjetzeiten Karriere, heute ist er der Vertreter des einflussreichen »Donezker Clans«, jener Interessengruppe des militärisch-industriellen Komplexes, die die Machtbasis Kutschmas bildet. Der »Donezker Clan« hat ein Interesse an enger Zusammenarbeit mit Russland, das von großen Teilen der Bevölkerung in dieser Region geteilt wird.

Viele fahren zur Arbeit nach Russland, wo die Löhne dreimal so hoch sind. Für diese Menschen war daher das Versprechen Putins, sie könnten sich 90 Tage lang ohne Anmeldung in Russland aufhalten, von existenzieller Bedeutung. Deshalb fällt die Regierungspropaganda auf fruchtbaren Boden, ein Großteil der Bevölkerung im Osten hält Juschtschenko für einen US-Agenten, wenn nicht gar für einen »Nazi«. Am Sonntag haben auf einem Kongress unter Janukowitsch die Deputierten der Ostukraine erklärt, sie wollten bei einem Sieg Juschtschenkos einen autonomen Status im Rahmen der Ukrainischen Föderation erhalten. Um die Macht nicht zu verlieren, setzt Janukowitsch nun auf das Separatisten-Ticket. Kutschma und die Sicherheitsdienste haben dies umgehend abgelehnt. Die Gouverneure werden in den Regionen direkt vom Präsidenten eingesetzt; damit ist der Machtkampf zunächst auf seinem Höhepunkt angelangt.

Auf die Unterstützung Wladimir Putins kann Janukowitsch weiterhin zählen. Der Präsident Russlands hatte sich im Wahlkampf für ihn engagiert und gratulierte ihm bereits vor der offiziellen Verkündung des Wahlergebnisses. Auf dem europäisch-russischen Gipfel in Den Haag verbat Putin sich in der vergangenen Woche energisch eine »Einmischung in die inneren Belange der Ukraine«.

Die EU-Minister dagegen wollen das offizielle Wahlergebnis nicht anerkennen und fordern eine gerichtliche Überprüfung; faktisch unterstützen sie damit die Opposition. Eine Eskalation in der Ukraine und ein Zerwürfnis mit Russland sollen jedoch vermieden werden. Eine Vermittlerrolle hat der polnische Präsident Alexander Kwasniewski übernommen, unterstützt wird seine Mission vom Europarat und vom noch amtierenden US-Außenminister Colin Powell.

Auf institutioneller Ebene sollte der Oberste Gerichtshof des Landes am Montag über die umstrittene Präsidentschaftswahl entscheiden. Angesichts der Höhe der Einsätze erscheint eine schnelle Beendigung des Machtkampfs allerdings als unwahrscheinlich.