Befreit euch zu euch selbst!

Eine Verteidigung der radikalen Emanzipation des Menschen. von roger behrens

Die Emanzipation des bürgerlichen Subjekts scheint dort nötig zu werden, wo die bürgerliche Gesellschaft den Entwurf des emanzipierten, das heißt bürgerlichen Subjekts nicht einzulösen vermag. Die Emanzipation des Bürgers war zunächst ideologisch als religiöse Selbstbefreiung im Sinne der Glaubensfreiheit verstanden, weshalb es nicht von ungefähr kommt, dass der Emanzipationsgedanke erstmals Anfang des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Emanzipation der europäischen Juden politisch hervortritt. Weshalb es aber auch nicht von ungefähr kommt, dass der Emanzipationsgedanke zum Ende des 19. Jahrhunderts sich fast ausschließlich auf die Frau bezieht.

Dass Emanzipation, ja Freiheit überhaupt möglich ist, muss bereits als ein Moment historischer Selbstbefreiung des Menschen verstanden werden; die bürgerliche Emanzipation beginnt als revolutionäre Erkenntnis, nämlich als praktische Erkenntniskritik, dass der Mensch weder von der Naturnotwendigkeit determiniert, noch vom Schicksal bestimmt sei. Die von Kant vermittelt und vermittelnd herausgestellte Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit, die Hegel dann als Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit entschlüsselt, tangiert auch den bürgerlichen Emanzipationsgedanken: Freiheit beziehungsweise der freie Mensch ist ja das erkannte Ziel dieser Selbstbefreiung. Es bleibt aber die Selbstbefreiung in der Selbsterkenntnis des Menschen; und es verwundert eben nicht, dass Hegels System, das von dem Bildungsstufengang des Selbstbewusstseins handelt, ohne radikale Emanzipation auskommt: weil in letzter Instanz die Freiheit des Subjekts in der objektiven Notwendigkeit sich aufhebt. Emanzipation meint indes ursprünglich eben nicht den Vatermord, sondern die Entlassung, um auf eigenen Wegen zum Vater zurückzukehren; im Fall der Emanzipation des bürgerlichen Subjekts ist das Vater Staat.

Solche Dialektik der Selbstbefreiung muss notwendig scheitern. Die bürgerliche Emanzipation kann nur die Emanzipation des Bürgers sein. Und diese Selbstbefreiung des Bürgers als Bürger mündet in der bürgerlichen Gesellschaft. Sie stellt einen Fortschritt der Selbstbefreiung dar, sofern sich die gewonnenen Freiheiten des bürgerlichen Selbst immer auf Errungenschaften beziehen, die eigentlich nur in der bürgerlichen Gesellschaft ein Problem darstellen: Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Reisefreiheit, Glaubensfreiheit, Freiheit der Forschung und Lehre etc. Es sind Freiheiten, die keine Bedeutung haben für diejenigen, die Hunger haben, die obdachlos sind, die Asyl suchen, die vom Terror bedroht sind etc. Dass aber keiner mehr hungert – also das mindeste Naturrecht und der Grundsatz menschlicher Würde –, ist im bürgerlichen Zeitalter noch keinen einzigen Tag lang in Kraft gesetzt worden.

Idealistische Erkenntniskritik muss in materialistische Gesellschaftskritik aufgehoben werden. Die theoretische Emanzipation des Bürgers kann nur in der praktischen Emanzipation vom Bürger fortgesetzt und eingelöst werden. Und die abstrakte Kritik des Bürgers ist durch die konkrete Kritik des Menschen zu ersetzen: Marx begreift Emanzipation als radikale Selbstbefreiung des Menschen. »Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst.« Bürgerliche Emanzipation formuliert den kategorischen Imperativ als Sittengesetz. Radikale Emanzipation fordert hingegen als »realen Humanismus« den »kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«. Diese berühmte Wendung findet sich bemerkenswerter Weise in einem Text, den Marx als Einleitung »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« schreibt; es ist eine Auseinandersetzung mit der Religionskritik in Deutschland, vor allem mit Blick auf das von revolutionärer Unruhe gekennzeichnete Frankreich. Der Schluss dieser kleinen Programmschrift, die Marx zwischen Ende 1843 und Anfang 1844 schreibt, konzentriert sich auf den Begriff der Emanzipation. Das »Bedürfnis und die Fähigkeit der allgemeinen Emanzipation« werde durch die »unmittelbare Lage, durch die materielle Notwendigkeit« erzwungen. Die Möglichkeiten der Emanzipation sieht Marx allerdings nicht bei den Bürgern, sondern bei »einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist … welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann«. Gemeint ist das Proletariat. Hier gibt es keine Verelendungstheorie, keinen Klassenkampf als Selbstzweck, sondern die Bestimmung des revolutionären Subjekts als Menschen dort, wo er von den zu revolutionierenden Verhältnissen strukturell entmenschlicht wird. Diese Emanzipation ist nicht die Selbstbefreiung des Proleten zum Proleten, sondern die »Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.«

In der postfordistischen, spätkapitalistischen Gesellschaft werden die emanzipatorischen Tendenzen in die bestehende Ordnung eingebunden, wird der Konformismus der Masse unter dem Anschein befestigt, dass jedes Individuum sein eigener Nonkonformist ist. Freizeit wird zum Schauplatz bürgerlicher Freiheiten; und vor allem wird die Jugend im Verbund mit der Kulturindustrie zur regulierten Phase, in der emanzipatorische Unruhe gehemmt und institutionalisiert ist: In der Popkultur ist Subversion, abweichendes Verhalten kontrollierter Ausbruch, der das System in letzter Instanz bestätigt. Die Pseudo-Emanzipation ist nunmehr die scheinbare Freisetzung eines Pseudoselbst. Die Pseudo-Emanzipation wird am Körper vorgeführt, nicht von ungefähr als vermeintliche sexuelle Freizügigkeit.

Auch ein nicht unbedeutender Teil der mit dem Poststrukturalismus sympathisierenden Linken beschränkt sich auf die Körperpolitik, glaubt, dass das Begehren sich vom Denken endlich frei machen muss, behauptet die Lust am Widerstand, der sich lediglich positivistisch auf die Oberflächenphänomene der gegenwärtigen Verhältnisse richtet. Mit Forderungen wie der nach der Befreiung vom Selbst fällt allerdings Emanzipation hinter den bürgerlichen Emanzipationsbegriff zurück; dass dabei auf Dekonstruktion von »Rasse« und Gender geachtet wird, ist nicht die Lösung des Emanzipationsproblems, sondern der Ausgangspunkt.

Die Verhinderung der Selbstbefreiung wird gewissermaßen zum sozialpsychologischen Problem; die Integration der widerständigen Elemente gegen die Gesellschaft wird in der psychischen Apparatur verankert. Wo der Mensch nicht der physischen Gewalt ausgesetzt ist, verinnerlicht er das Wertgesetz, identifiziert sich mit Leistung, mit der Anpassung, den Waren. Die Widersprüche gehen durch die Subjekte hindurch. Es bleiben aber Widersprüche, die für die bestehende Gesellschaft eine strukturelle Krise bedeuten.

Schon 1955 hat Herbert Marcuse in »Triebstruktur und Gesellschaft« festgestellt, dass es gewissermaßen einen Überschuss an Unterdrückung gibt, die das nötige Maß an Realitätsprinzip bei weitem übersteigt. Für Marcuse, der als einer der ersten 1932 die gerade veröffentlichten, oben zitierten Marxschen Frühschriften rezipiert hat, bedeutet dies, den Begriff der Emanzipation zu aktualisieren: Er spricht von der Notwendigkeit der sozialen Phantasie. Nur eine große Weigerung vermag diesen Gewaltzusammenhang zu durchbrechen. Und ein Jahrzehnt später entdeckt er in den weltweiten Protestbewegungen Ansätze einer derartigen Selbstbefreiung.

In seinem »Versuch über die Befreiung« von 1969 ist von einer Neuen Sensibilität die Rede, als Vertrauen in die »Rationalität der ästhetischen Phantasie«. Sie bedeutet »eine neue Vorstellung von Sozialismus in seiner qualitativen Differenz von den etablierten Gesellschaften«. Ein Jahr später, natürlich auch mit Blick auf die politischen Bewegungen, hat Peter Brückner diese ästhetische Dimension der Selbstbefreiung näher bestimmt. »Selbstbefreiung wäre: Denken an Lust, die Lust am Denken sollen sich hinfort nicht mehr ausschließen.« Das heißt: »Emanzipation als Selbstfreigabe und Enthemmung, Provokation als Aufstand gegen innere wie äußere Fesseln des Individuums und die Emanzipation unterdrückter Klassen (…) oder unterprivilegierter Gruppen«. Brückner nannte das »Provokation als organisierte Selbstfreigabe«.

Die Praxis einer radikalen Emanzipation ist ohne Theorie nicht zu haben. Die Befreiung des Körpers muss von der Befreiung des Denkens ausgehen, indem sie Befreiung eben denkt, ansonsten verkürzt sich emanzipatorischer Widerstand zum lustvollen Verzicht auf den Körper. Auch wenn die Bedingungen für eine radikale Emanzipation des Menschen nicht gegeben sind: Selbstbefreiung richtet sich nach der Möglichkeit, und nach der soll sich die Wirklichkeit richten.

Die Gruppe Sinistra behauptet in der Jungle World: »Mit ›Nie wieder Ich‹-Transparenten lässt sich leider schlecht für eine autonome Demo mobilisieren.« Warum soll man aber auch auf seine Fahne schreiben, was die bürgerliche Gesellschaft ohnehin erledigt: Im herrschenden Sexismus, Rassismus, Antisemitismus etc. steckt nicht ein Zuviel an Subjekt, sondern das Misslingen von Subjektivität. Solange es das kommunistische Ich nicht gibt, bleibt die Aktualität emanzipatorischer Politik die Befreiung zu uns selbst. Allein für die kritische Prüfung der Linken, für die Organisation der Politik braucht es wenigstens die Spur eines Ichs, den subjektiven Faktor. Nicht »Nie wieder Ich«, sondern den Menschen fähig machen, sein Ich selbst zu setzen, autonom und emanzipatorisch. Das wäre radikale Emanzipation des Menschen als Kritik der Befreiung.