»Debords Kritik ist aktueller denn je«

Vincent Kaufmann

In der Kritik der gesellschaftlichen Totalität sah Guy Debord, Mitbegründer der Situationistischen Internationale (SI), seine Aufgabe. Kritik der Ware, des Staates, der Ideologie, der Kunst – kein Bereich der modernen Gesellschaft sollte der Bewegung der radikalen Negation entgehen. Ihre praktische Bestätigung fand diese Kritik in den revolutionären Unruhen von 1968 ff.

Vincent Kaufmann ist Autor des in diesem Jahr in der Edition Tiamat in deutscher Übersetzung erschienenen Buches »Guy Debord. Die Revolution im Dienste der Poesie«. Das Interview mit ihm führte Bernd Beier.

Vor zehn Jahren hat Guy Debord seinem Leben ein Ende gesetzt. Was bleibt von seiner Kritik?

Von seiner Kritik bleibt sehr viel, wenn nicht sogar alles, wobei ich vor allem an die »Kommentare über die Gesellschaft des Spektakels« denke. Die stark marxistische Perspektive der »Gesellschaft des Spektakels« wirkt heute weniger aktuell. Was bleibt von dem revolutionären Horizont, der 1967 noch derjenige von Debord war? Was bleibt von der ganzen »Klassenkampf«-Begrifflichkeit? Nicht sehr viel, und Debord hat das mit den »Kommentaren« 1988 selber erkannt. Die revolutionäre Perspektive ist verschwunden, damit auch eine Theorie des revolutionären Handelns.

Aber die Kritik am Spektakel bleibt aktuell, weil sich das Spektakel nicht grundlegend verändert, sondern nur verstärkt hat. Wie kann man heute wirklich daran zweifeln? Die heute so oft besprochene »Globalisierung« entspricht schließlich dem »integrierten Spektakulären«. Und in Bereichen wie Umweltzerstörung, Vermarktung (von fast allem!), Medienpolitik usw. ist Debords Kritik aktueller denn je.

Gilt das auch für Debords strategische Überlegungen in den »Kommentaren«?

Sicher. Die 9/11-Attentate bestätigen seine ganze Theorie über die Unsichtbarkeit des Feindes des Spektakels bzw. über die Kurzsichtigkeit des triumphierenden integrierten Spektakels, das es nicht mehr vermag, seinen Feind zu erkennen, oder das nicht mehr strategisch denken kann.

Auch die Idee, dass die politische Organisation der modernen Gesellschaften sich dem Modell der Mafia angepasst hat, ist aktueller denn je. Wer kann heute glauben, dass wir in transparenten Demokratien leben, dass wir allgemein Zugang zur Wahrheit haben, insbesondere wenn es um Weltpolitik geht? Was wissen wir genau von den 9/11-Attentaten? Oder vom Irak? Einzig sicher ist, dass andauernd gelogen wurde und immer noch wird, aber viel mehr wissen wir nicht. Wir leben genau in dieser barocken Welt der Verschwörungen und der Illusionen, die der »späte« Debord beschrieben hat.

Als Feind des Spektakels, als der er sich selber verstand, wurde der 10. Jahrestag seines Todes im Spektakel hierzulande weitgehend ignoriert. Soll sein Leben und sein Werk dem Vergessen anheim gegeben werden?

Das kommt ein wenig darauf an, wo man sich befindet. In Frankreich wurde Debord in diesem Jahr wieder sehr intensiv diskutiert, mit weiteren Bänden seiner Korrespondenz und einer Reihe von neuen sowie neu veröffentlichen Büchern über ihn. Auch in den USA wurden Symposien organisiert. Ich komme gerade von einer Tagung an der New York University zurück. Die Situationisten haben sich als eine internationale Bewegung verstanden, jedoch ist diese vor allem französisch geblieben, was auch viel mit Debords herausragender Persönlichkeit zu tun hat.

Die situationistischen Ideen haben sich in Frankreich mehr als anderswo verbreitet. Und viele Leute in Frankreich haben Debord gekannt, waren seine Freunde oder auch seine Feinde (manchmal auch beides nacheinander), und einige davon rechnen noch heute mit ihm ab.

Man darf auch nicht vergessen, dass die situationistische Bewegung aufs Engste mit der ganzen künstlerischen avantgardistischen Tradition verbunden war, die in Frankreich einen dauerhafteren Einfluss gehabt hat als in Deutschland, wo sie von 1933 bis in die fünfziger Jahren total unterbrochen wurde.

Und wenn Debord als Theoretiker heute möglicherweise nicht mehr so sichtbar ist wie einst, ist daneben ein anderer Debord immer sichtbarer geworden, zumal in Frankreich sowie in anderen Ländern, in denen die entsprechenden Übersetzungen vorliegen: der »schrifstellerische« Debord, der sich selbst porträtierte. Ich halte Debord für einen der großen literarischen Autobiographen der französischen Literatur des 20. Jahrhunderts.

Passt Debord als Protagonist der Revolution nicht mehr in die gegenwärtige Epoche der Restauration?

Doch, aber immer noch als derjenige, der mit dieser Epoche, mit dieser Gesellschaft nichts zu tun haben wollte oder will. In diesem Sinn ist Debord eben immer noch aktuell oder sogar beispielhaft. Von welchen Intellektuellen, in Frankreich oder in Deutschland, könnte man heute sagen, dass sie es geschafft haben, nicht nur eine radikale und kohärente Kritik der Gesellschaft zu produzieren, sondern sich auch noch jedes Kompromisses mit dieser Gesellschaft zu enthalten, das heißt so zu leben, wie sie es theoretisch angestrebt haben?

Aus diesem Grund ist Debords autobiographisches Werk ebenso wichtig wie das theoretische. Er selbst hat immer darauf bestanden, dass er kein Theoretiker sei und dass die Intellektuellen nur glaubwürdig sein können, wenn sie auch in ihrem Leben Beispiele setzen. Natürlich kann man diesem Beispiel nicht einfach folgen. Was aber Debords Werk vermittelt, ist vielleicht so etwas wie der Wunsch einer radikalen Opposition, der Wunsch, »sich nicht fügen zu wollen«.

Mit welchen Strategien wird versucht, die Gesellschaft gegen Guy Debords Kritik zu immunisieren?

Ich glaube nicht, dass sich die Gesellschaft gegen Debords Kritik immunisieren kann oder immunisiert hat, genauso wenig wie ich glaube, dass man sich individuell gegen das Unbewusste immunisieren kann. Die Rückkehr des Verdrängten findet immer auf irgendeine Weise statt, und so geht es auch mit dem, was auf der sozialen und politischen Ebene unbewusst bleibt.

Je mehr das Spektakel lügt, desto mehr muss es weiterlügen, Symptome produzieren, und einmal wird das allen klar, und damit verlieren alle Institutionen immer mehr von ihrer Glaubwürdigkeit. Vielleicht ist es heute eher so, dass Debord als Theoretiker ein wenig vergessen wird, weil viel von seiner Kritik eigentlich vielen Leuten absolut klar ist.

Lassen sich unterschiedliche Phasen in der Rezeption seines Werkes unterscheiden?

Ich kann hier eigentlich nur die Debord-Rezeption in Frankreich beurteilen, wobei ich nicht von Phasen sprechen würde, sondern einfach von verschiedenen Ebenen. Viele von diesen »Phasen« finden gleichzeitig statt, und in vielen Fällen wird nur ein Aspekt seines Werkes oder Lebens hervorgehoben. Die einen privilegieren den Theoretiker, die anderen den Schriftsteller oder den Filmregisseur.

Ich habe in meinem Buch versucht, alle Aspekte von Debord zusammenzubringen; ich bin überzeugt, dass sich diese verschiedenen Aspekte gegenseitig erklären und dass es immer eine Vereinfachung, ein Verlust an Substanz ist, wenn man diese verschiedenen Aspekte voneinander trennt.

In letzter Zeit sind verschiedene Materialsammlungen zu Debord und zur Geschichte der SI erschienen. Ergeben sich daraus neue Erkenntnisse?

Mehr oder weniger. Man muss unterscheiden zwischen echten Dokumenten, die erscheinen oder neu erscheinen, und »second hand«-Dokumenten, d.h. indirekten Zeugnissen, die oft einer Trittbrettfahrerstrategie entsprechen, nach dem Motto: »Fast hätte ich Guy Debord getroffen!« Am meisten erfährt man von Debords Korrespondenzen. Die bislang veröffentlichten Bände umfassen die Jahre von 1957 bis 1972.