Eine Frage der Realitäten

Asli Yazicioglu und Tugba Gümüs leben in Istanbul in unterschiedlichen Welten. Ihnen gemeinsam ist, dass sie die Diskussion um den EU-Beitritt nicht interessiert. Eine Reportage von sabine küper, istanbul

Asli Yazicioglu kennt Jane Fonda nicht als Barbarella in dem gleichnamigen Film von Roger Vadim. 1968 war sie noch nicht geboren, und überhaupt drehte man in der Türkei in den siebziger Jahren lieber entsprechende Streifen mit den lokalen, leicht bekleideten Schönheiten. Yazicioglus Barbarella hat keinen Schmollmund über der Wespentaille, sondern ähnelt eher einer blonden Version der Kriegerprinzessin Zeyna. Der muskulöse Körper ist in knappes Leder gezwängt, das Schwert und ihr Pferd sind Barbarellas treueste Begleiter, und so reitet sie in der türkischen Satirezeitschrift Atom beherzt von Abenteuer zu Abenteuer.

Die 26jährige Zeichnerin Yazicioglu ist die Schöpferin von Barbarella. Sie errötet leicht, wenn sie von ihrer Figur erzählt. Das sei ein phantastischer Charakter, die Geschichten hätten eben nichts mit der türkischen Wirklichkeit zu tun, und deshalb zeichne sie Barbarella besonders gerne. Tatsächlich sticht die Cartoon-Serie in der vor allem von Jungendlichen verschlungenen Zeitschrift heraus. Auch wenn die Zeichnungen in Atom sich allgemein durch ihre Liebe zu Phantasmen, zum Grotesken und zum Tabubruch auszeichnen, spiegelt Yazicioglus Barbarella ganz besonders eine phantasievolle Überschreitung in der Türkei geläufiger Rollenvorstellungen wider. Trotz der sichtbaren Anlehnung an Zeyna hat die Figur ganz eigene Züge.

Nachdenklich schiebt Yazicioglu die verspiegelte Sonnenbrille von der Nase auf die Haare und reibt sich den Nasenrücken. »Im Grunde wollen die Leser zwar Phantasiegestalten und witzige Abstraktionen, aber doch innerhalb ihres eigenen Alltags.« Sie sitzt im Schatten des Galata-Turms. In der Shopping-Meile tummelt sich die typische Klientel des Istanbuler Innenstadtviertels Galata. Im Kaffeehaus sitzen anatolische Migranten beim Nachmittagstee neben jungen Szenetürken, die, halb auf den Tischen liegend, verschlafen den ersten Nescafé des Tages schlürfen. Sie gehören zu den Lesern von Atom, während die Migranten dort ausgiebig karikiert werden.

Yazicioglu wohnt mit ihrem Freund Melik Sah seit einem halben Jahr in dem sich zum neuen In-Viertel wandelnden Galata. Geboren und aufgewachsen ist sie in Ankara. Die Hauptstadt der traditionellen kemalistischen Staatselite ist sauberer, geordneter, homogener und langweiliger als Istanbul; deswegen zog die Absolventin der Kunstakademie nach dem Studium in die Chaos-Metropole am Bosporus. Hier lebt sie in ihrer Nische, wie die meisten der etwa 15 Millionen Einwohner. Der Bäcker des Stadtteils ist ein frommer Bauer von der Schwarzmeerküste, der Kaffeehausbesitzer ein Tscherkesse aus dem Taurus-Gebirge, den Tekel-Laden – eine Schnaps- und Zigarettenbude – führt ein Alevite aus Sivas und das hippe Kaffeehaus am Rande des Istiklal-Boulevards eine Türkin aus München.

Die wachsende Heterogenität des Viertels hat die Toleranz deutlich erhöht. Den Tekel-Laden gibt es erst seit drei Jahren. Davor verkaufte nur ein Händler in Zeitungen gewickelte Wein-, Schnaps- und Bierflaschen, die dazu noch in schwarzen Tüten versteckt wurden. Für Yazicioglu ist das aber längst kalter Kaffee. Ihre Nachbarn sieht sie ohnehin kaum. »Ich arbeite meist bis spät in die Nacht, manchmal gehen wir dann noch ein Bier trinken, dann wird lange geschlafen, unser Tag beginnt durchschnittlich um vier Uhr nachmittags.« Ihr Freund pflichtet ihr bei und dreht sich eine Zigarette. Er ist ebenfalls Zeichner, hat ein modisches Spitzbärtchen, einen Ring im Ohr und ist fünf Jahre jünger als Yazicioglu.

Auch wenn die beiden in einer ganz anderen Welt als ihre anatolischen Nachbarn leben, werden sie dennoch von dieser Umwelt inspiriert. Melik Sah liebt es, Zeichnungen über die türkische Mafia anzufertigen und Wortspiele zu verwenden, die die Verstrickungen von Mafia, Polizei und Staat satirisch enthüllen. Das ist ein wichtiges innenpolitisches Thema. Wegen den Aktivitäten der Immobilienmafia in Galata und der allgemein bekannten Zusammenarbeit von Banden jugendlicher Taschendiebe mit der innerstädtischen Polizei ist das Problem auch im Leben der beiden präsent.

Yazicioglu lässt Barbarella auch stellvertretend mit dem anatolischen Machismo abrechnen. Allen türkischen Lesern von Atom ist das schreckliche Schicksal der Kurdin Kadriye Demirel bekannt. Die 18jährige wurde vor einem Jahr im südostanatolischen Diyarbakir von ihrem nur ein Jahr älteren Bruder getötet, weil sie nach einer Vergewaltigung schwanger geworden war. Als Tatwaffe diente ein traditionelles Schwert. Der Körper der jungen Frau war von Schnittwunden völlig entstellt.

Das ist die fürchterliche Realität, auf die Yazicioglu mit ihren Zeichnungen reagiert. In einer Episode gefällt Barbarella ein schmucker Jüngling im Wald, mit dem sie sich gerne in die Büsche schlagen würde. Als ihr Objekt der Begierde sie aber mit drei unförmigen Spießgesellen teilen möchte, verwandelt die Kriegerin die unappetitliche Bagage mit dem Schwert in Dschungel-Gulasch. Nur der schöne Jüngling entkommt, und Yazicioglu zeichnet Barbarella ein teuflisches Blitzen in die Augenwinkel. »Lauf nur weg, mal sehen, wie weit du kommst«, lautet der Text der Sprechblase. Im weiteren Verlauf der Geschichte, die in einer fernen, ahistorischen und meta-lokalen Phantasiewelt spielt, krallt sich die Superfrau ihren Prinzen noch, doch eher als Beute denn als amouröse Eroberung. Der abschließende Koitus wird zwar nur noch in Form eines Sprechblasendialogs angedeutet, stellt aber klar, wer den Ton angibt: Barbarella, deren Küsse flüchtig sind, denn sie ist schon halb auf dem Weg zu neuen Abenteuern.

Wer wollte Yazicioglu wegen der blutigen Rachephantasien, die sie ihre Cartoon-Heldin ausleben lässt, einen Vorwurf machen? Am meisten merkwürdigerweise sie selber. Immer wieder wandert ihre Hand im Gespräch zur Brille, die auf- und wieder abgesetzt, angenagt und schließlich mit den Worten weggesteckt wird: »Im Grunde sind wir relativ apolitisch aufgewachsen. Satire thematisiert bei uns zwar grundsätzlich gesellschaftliche Themen, im Vordergrund steht bei mir aber doch der Spaß.«

Ganz anders lebt Tugba Gümüs. Sie wohnt in Kartal, einem typischen Arbeiterviertel am Stadtrand von Istanbul; mit öffentlichen Verkehrsmitteln braucht man von Galata zweieinhalb Stunden dorthin. Gümüs ist ebenso wie Yazicioglu 26 Jahre alt, sie wirkt aber jünger und gleichzeitig ernster. Sie hat etwas leicht Verhärmtes an sich, das nur verschwindet, wenn sie über Politik redet. Dann glänzen ihre Augen, und die Blässe schwindet aus dem schmalen Gesicht. Sie hat zehn Jahre lang in einer Textilfabrik als Maschinistin gearbeitet. Sie begann dort zu arbeiten, als sie 14 war, und lieferte zehn Jahre lang ihren Lohn zuhause beim Vater ab. Nicht einmal ein T-Shirt im verbilligten Fabrikverkauf konnte die junge Frau ohne Einverständnis der Familie kaufen. Seit einem halben Jahr wohnt sie nicht mehr bei den Eltern, sondern mit anderen Frauen in einer Wohngemeinschaft.

Sie ist Aktivistin der »Vereinigung der werktätigen Frauen«, eines Zusammenschlusses linksradikaler Frauen. Sie sind vor allem gewerkschaftsnah und auf informeller Ebene aktiv. Gümüs und ihre Kolleginnen beraten in einem Büro in Kartal Frauen bei rechtlichen und sozialen Fragen und fordern sie auf, an Gesprächskreisen, Pressearbeit und Demonstrationen teilzunehmen.

Einmal pro Woche findet in dem Viertel ein so genannter Volksbasar statt. Kilometerlange Reihen von Obst- und Gemüseständen ziehen sich die Straße entlang, die aufgebauten Tische sind voll mit ärmlicher Kleidung und Haushaltsgeräten aus buntem Plastik. Gümüs läuft einsilbig durch den Trubel. Vor vier Wochen wurde sie zum zweiten Mal in diesem Jahr von Zivilpolizisten schwer misshandelt und sexuell missbraucht. Es fällt ihr schwer, darüber zu sprechen.

An einem Stand, wo Winterpullover verkauft werden, erstarrt sie, bevor sie anfängt, energisch auf den Händler, einen jungen, etwa gleichaltrigen Mann, einzureden. »Schämst du dich nicht, die Machenschaften dieser Faschisten zu unterstützen? Was wäre denn, wenn sie deine Schwester in ein Auto zerren würden?« faucht sie. Der Auslöser des Wutausbruchs sind schwarze Gesichtsmasken aus Wolle, die an einer Schnur über dem Stand hängen. Sie sind die typischen Accessoires der Geheimpolizei, die seit etwa einem Jahr vermehrt mit Minibussen durch Istanbul fährt und Aktivisten aufgreift. Derya Aksakal, eine Frau aus Gümüs’ Vereinigung, wurde ebenfalls in diesem Jahr festgenommen, am Rande der Anti-Nato-Demonstrationen im Juni. Ebenso erging es der Österreicherin Elisabeth Brunner, die seit vier Jahren in Istanbul in einer NGO arbeitet.

Die Verhaftungen verliefen alle nach dem gleichen Muster, berichtet Gümüs. Sie selbst wurde auf dem Weg nach Hause aufgegriffen, Maskierte zerrten sie in ein Auto und fuhren los. Ihr wurden die Augen verbunden, die Kleidungsstücke vom Leib gezerrt, Arme und Beine gefesselt. Mit gezielten Schlägen auf Gelenke, Knie, Brüste und in den Schambereich wird den Frauen so viel Schmerz zugefügt, dass sie fast bewusstlos werden. Systematisch fügen die Peiniger den Frauen bleibende Verletzungen zu. Gümüs traten sie so stark gegen die Kniescheibe, dass die behandelnden Ärzte der Stiftung für Menschenrechte bleibende Schäden befürchten. Elisabeth Brunner und Derya Aksakkal wurden Zigaretten auf den Unterarmen ausgedrückt.

Am Rande des Basars befindet sich das Vereinslokal der werktätigen Frauen. Dort werden gerade Flugblätter für eine Demonstration gegen die Hochsicherheitstrakte vorbereitet. Gümüs lebt auf, unter den anderen Frauen fühlt sie sich wohl und sicher.

Obwohl Asli Yazicioglu und Tugba Gümüs ansonsten wenig gemeinsam haben, lässt beide die Diskussion um den türkischen EU-Beitritt kalt. »Unser Leben berührt das erst einmal nicht direkt«, äußern beide. Auch über die Nachricht, dass die EU mit der Türkei im Oktober Beitrittsverhandlungen aufnehmen wird, werden sie nicht in Jubel ausbrechen. Wichtigeres zu tun zu haben, als sich um die EU zu scheren, ist ein viel versprechender Ansatz.