Polen positiv

In Osteuropa haben Aidsinfektionen stark zugenommen. Eine Ausnahme stellt Polen dar. Gegen den Mythos, Aids betreffe nur Homosexuelle und Drogenabhängige, muss aber gearbeitet werden. von martin kraft, krakau

Allein in diesem Jahr starben drei Millionen Menschen an Aids, so viele wie nie zuvor. Zu diesem deprimierenden Ergebnis gelangen das Aids-Bekämpfungsprogramm der Vereinten Nationen und die Weltgesundheitsorganisation in ihrem Jahresbericht zur Ausbreitung der Krankheit, der Ende November veröffentlicht wurde. Aus dem Bericht geht hervor, dass neben Ost- und Zentralasien auch in Osteuropa Aidserkrankungen stark zugenommen haben. Innerhalb der Russischen Föderation infizieren sich monatlich 5 000 Menschen mit HIV. Auch die Zahlen für Lettland und die Ukraine sind erschreckend. Eine der höchsten Infektionsraten überhaupt weist Estland auf mit im letzten Jahr – offiziell – registrierten 3 580 HIV-Positiven bei einer Bevölkerung von nur 1,4 Millionen Menschen.

Auf den ersten Blick überraschend mag daher die Situation jenseits der Oder im Nachbarland Polen erscheinen. Im Gegensatz zu Russland oder ehemaligen Mitgliedsstaaten der UdSSR wie Estland oder Usbekistan sind in Polen die Zahlen an jährlichen HIV-Neuinfektionen verhältnismäßig konstant geblieben: Die vom Staatlichen Hygiene-Institut in Warschau monatlich veröffentlichten Zahlen sprechen von 9 049 infizierten polnischen Bürgern – bei einer Gesamtbevölkerung von 39 Millionen Menschen – im Zeitraum zwischen 1985 und Ende November 2004. 1 519 von ihnen sind seitdem an Aids erkrankt. Die Zahl der Todesfälle beläuft sich auf 714. Die Statistik führt außerdem die Information, dass mindestens 5 124 der HIV-Neuinfektionen auf Drogengebrauch zurückzuführen sind. Inoffiziellen Schätzungen zufolge liegt die Zahl HIV-Infizierter in Polen etwa doppelt so hoch, zwischen 15 000 und 20 000 Menschen sind demnach HIV-positiv.

Im Gegensatz zu anderen Ländern wurde die erste HIV-Infektion in Polen erst 1985, die ersten Erkrankungen an Aids im Jahr 1986 registriert, ironischerweise könnte man sagen, dass der Eiserne Vorhang, der das realsozialistische Polen umschloss, doch eine schützende Wirkung hatte. Zu Beginn der neunziger Jahre war jedoch die Zahl der jährlichen Neuinfektionen bereits auf mehr als 800 angewachsen – was unter anderem mit dem sich zu diesem Zeitpunkt verbreitenden Gebrauch von Heroin als neuer »Modedroge« und mit der Verwendung von Spritzbesteck zusammenhängt. Neuinfektionen wurden zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich unter Drogenabhängigen registriert.

Aus diesem Anlass wurde von der polnischen Regierung im Jahr 1993 das »Landeszentrum Aids« (Kcaids) eingerichtet, das es sich seitdem zur Aufgabe gemacht hat, sowohl in der öffentlichen Aufklärungsarbeit zu wirken als auch medizinische Standards zur Diagnose und Behandlung von HIV-Infizierten und an Aids Erkrankten sicherzustellen. Das polnische Gesundheitssystem garantiert seitdem Patienten, die HIV-positiv sind und sich für eine Behandlung entscheiden, kostenlose Medikamente – auch ein Erfolg all derjenigen, die im Kampf gegen Aids aktiv sind. Wie der katholische Priester Arkadiusz Nowak, der auf einer Pressekonferenz zum Welt-Aids-Tag am 1. Dezember in Warschau die Infrastruktur zur Unterstützung von Aids-Kranken insgesamt lobte: »Ein polnischer Patient, der mit HIV lebt und eine medizinische Therapie in Anspruch nimmt, kann eine teure Antiretrovirus-Behandlung bekommen, die den Ausbruch der Krankheit verzögert und das Leben verlängert. Das ist ein bedeutender Erfolg Polens, dessen wir uns in ganz Europa rühmen können.«

Seinen Optimismus teilt allerdings in Polen nicht jeder. Trotz der engagierten Arbeit des Kcaids, der Herausgabe der Zeitschrift Kontra, die sich Neuigkeiten und Informationen rund um das Thema HIV/Aids widmet, und trotz der Aufklärungsarbeit des Polnischen Roten Kreuzes und etlicher anderer engagierter NGO sieht die polnische Realität für den einzelnen mit HIV Infizierten oder an Aids Erkrankten wesentlich trister aus als in Nowaks Worten.

Kein Wunder, dass sein patriotischer Überschwang unter den Betroffenen nur Unverständnis erzeugt. Trotz »sicheren« Zugangs zu Medikamenten bleibt das Budget des polnischen Gesundheitssystems begrenzt, die allerneuesten Mittel zur Behandlung sind wegen des hohen Preises auf dem pharmazeutischen Markt nicht erhältlich für den polnischen Patienten, oder es muss mit Lieferschwierigkeiten gerechnet werden. Bei der Behandlung selbst sehen sich Patienten oft mit diskriminierendem Verhalten des medizinischen Personals konfrontiert, was ihnen nicht selten das Gefühl gibt, Patienten »zweiter Klasse« zu sein. In etlichen Städten finden sich verlässliche Ärzte, denen Vertraulichkeit und ärztliche Schweigepflicht etwas bedeuten, aber nicht jeder kann sich dessen sicher sein, und ein Bruch der Schweigepflicht sowie Weiterleitung von persönlichen Informationen über HIV-Infizierte haben schon in manchem Fall dazu beigetragen, die Integrität von Patienten durch die Intoleranz ihres sozialen Umfeldes erheblich zu gefährden.

Aber ein Teil der Menschen gibt sich nicht mit den ungeschriebenen Regeln der polnischen Realität zufrieden, sondern fordert seine Rechte vehement ein, unter hohem Kraftaufwand und in dem Bewusstsein, nur so etwas ändern zu können. Zum Zweck des Erfahrungsaustauschs in Auseinandersetzung mit behördlichen Schwierigkeiten und dem täglichen Leben macht man sich auch die Möglichkeiten des Internets nutzbar. So dient beispielsweise das »Forum HIV/Aids« als Ort der Kommunikation und wird von vielen Menschen genutzt.

In den letzten fünf Jahren kam es in Polen nach wie vor zu jährlich 550 bis 600 Neuinfektionen, wobei die Tendenz der letzten zwei Jahre steigend ist und mittlerweile nicht mehr die so genannten Risikogruppen den größten Anteil an Neuinfektionen darstellen, sondern junge Menschen heterosexueller Orientierung. »Selbstverständlich waren zu Beginn Homosexuelle und Personen, die Drogen spritzen, am meisten von HIV und Aids betroffen. In Kürze jedoch war der Anstieg von Infektionen bei heterosexuellen Menschen zu beobachten, die niemals Drogen benutzten. Man sollte deshalb nicht mehr von ›Risikogruppen‹, sondern von ›riskantem Verhalten‹ sprechen«, erläutert Grazyna Konieczny von der NGO »Spoleczny Komitet« (Öffentlichkeitskomitee Aids).

Am Welt-Aids-Tag am 1. Dezember wurden in den größeren polnischen Städten verschiedene Aktionen durchgeführt, organisiert u.a. von der Jugendorganisation des Polnischen Roten Kreuzes und der Kampagne gegen Homophobie. Dabei wurden vor allem Aufklärungsmaterialien in Form von Flyern und Broschüren ausgegeben, ebenso kostenlose Kondome. In Wroclaw verteilte man Informationsmaterial, um die Leute dazu zu ermutigen, sich kostenlos und anonym einem HIV-Test zu unterziehen. Ähnliche Aufrufe gab es in etlichen anderen Städten, man möchte vor allem Jugendlichen ins Bewusstsein rufen, dass das Thema HIV und Aids jeden betrifft, egal welcher sexuellen Orientierung. Schätzungen des Kcaids zufolge wird die Aufgabe der nächsten Jahre vor allem darin bestehen, die Aufklärungsarbeit weiter voranzutreiben und vor allem unter jungen Menschen ein verantwortungsvolleres Bewusstsein im Umgang mit Sexualität zu schaffen.