Sie waren die Auskunft

Vier Jahre lang erreichte man unter der Nummer 11 8 33 ein Call Center in Berlin-Spandau. Jetzt soll es abgewickelt werden, und die MitarbeiterInnen sollen »freiwillig« gehen. von martin kröger

Dort herrscht inzwischen ein furchtbares Betriebsklima.« Klaus Tönnemann*, ein ehemaliger Mitarbeiter des Call Centers MultiCom Services (MCS), ist entsetzt über die Abwicklung seines Betriebes. Er war einer der wenigen, die sich für die Einführung minimaler arbeitsrechtlicher Standards in dem Call Center eingesetzt hatten. »Momentan wird versucht, alle elegant und billig loszuwerden.«

Knapp 500 Beschäftigte bei MCS, einem der größten Call Center Berlins, besorgen seit vier Jahren im Stadtteil Spandau das Geschäft der Telefonauskunft 11 8 33, seit die Deutsche Telekom diesen Geschäftszweig im Jahr 2000 ausgelagert hat, um zu sparen. Inzwischen hat man sich allerdings beim größten deutschen Telekommunikationsunternehmen eines Besseren besonnen: Da über 20 000 MitarbeiterInnen wegen des Ausschlusses betriebsbedingter Kündigungen bis zum Jahr 2006 nicht entlassen werden können, will die Telekom ab Mitte nächsten Jahres wieder selbst Auskünfte erteilen, um die freien, aber voll bezahlten Arbeitskräfte zu beschäftigen.

Konsequenzen hat dies vor allem für die AgentInnen, TeamerInnen und studentischen Kräfte bei MCS, die man nun still und heimlich loszuwerden versucht. Befristete Verträge wurden nicht verlängert, damit der Anspruch auf eine feste Stelle wegfiel; festangestellten TeamleiterInnen seien vor kurzem in einer außergewöhnlichen Aktion Änderungsverträge spät abends per Kurier zugesandt worden, erzählt Klaus Tönnemann. »Denen wurde bewusst nicht vorher mitgeteilt, dass sie mit ihrer Unterschrift alle Rechte, die sie aus dem alten Vertrag haben, einbüßen.« Normalerweise hätte den Festangestellten nach einer mehrjährigen Tätigkeit eine Abfindung zugestanden.

Gegen einige Personen, die besonders auf ihre Rechte gepocht hatten, sprach die Geschäftsführung der MCS so genannte verhaltensbedingte Kündigungen aus. Dafür hatte sich das Unternehmen an die Krankenkassen der Beschäftigten gewandt mit dem Ziel herauszufinden, ob diese ihre Krankheitstage auch tatsächlich beim Arzt oder zu Hause verbracht hatten. Mehrere solcher Fälle werden derzeit vor dem Arbeitsgericht verhandelt.

Dass arbeitsrechtliche Vorgaben in dem Call Center seit Jahren missachtet werden, ist nichts Neues. Studierende, die neben ihrer Ausbildung bei MCS jobbten, bekamen dort nur unbefristete, mündliche Verträge, erzählt Christiane Lieberam. Die studentische Beschäftigte bei MCS wehrte sich dagegen und verfasste arbeitsrechtliche Merkblätter. Das sei nötig geworden, weil die Geschäftsführung gegenüber den StudentInnen behauptet habe, sie brauche Urlaubs- und Krankheitstage nicht zu bezahlen. Es sei sogar versucht worden, sie zu nötigen, die Fehltage nachzuarbeiten. »Im Krankheitsfall hat die Geschäftsführung uns gedroht, Detektive zu schicken, deren Arbeit wir bei Entdeckung selbst bezahlen sollten«, berichtet Lieberam. »Hier herrschen Bedingungen wie vor der industriellen Revolution, quasi frühkapitalistische Verhältnisse.« Wie auch Tönnemann bestätigt sie, dass zurzeit alles getan werde, »um die Beschäftigten zum freiwilligen Verzicht auf ihre Stelle zu zwingen«. So seien Dienstpläne spontan verändert worden, um den MitarbeiterInnen Verspätungen vorwerfen zu können.

Ursula Hecht streitet die Vorwürfe ab. »Die Leute sind freiwillig von alleine gegangen«, sagt das freigestellte Betriebsratsmitglied bei MCS. Sie räumt allerdings ein, dass bereits 200 Beschäftigte ihren Arbeitsplatz verloren hätten. »Bei uns arbeiten nur noch 300 MitarbeiterInnen.« Zu den anderen Vorwürfen möchte sich die Betriebsrätin nicht äußern. »Sie müssen verstehen, ich unterliege Paragraphen, die die Rechte des Betriebsrats beschneiden«, sagt sie und verweist auf die Entscheidungsbefugnis, die allein bei dem Gesellschafter der MCS liege.

Auch Jörg Kiekhäfer, der bei Verdi für Telekommunikation und Informationstechnologien im Bezirk Potsdam-Nordwestbrandenburg zuständig ist, stellt die Bedeutung des alleinigen Gesellschafters, des Frankfurter Wirtschaftsanwalts Gerald Brandt, in den Vordergrund. Kiekhäfer beschäftigt sich schon seit geraumer Zeit mit dem Spandauer Call Center. Dem Betriebsrat stellt er kein gutes Zeugnis aus, da er des Öfteren gegen rechtliche Bestimmungen verstoßen und die vorgeschriebenen Betriebsversammlungen und Schulungen nicht abgehalten habe. Dennoch lehnt Kiekhäfer es ab, jetzt noch zu versuchen, einen neuen Betriebsrat zu installieren. Es sei fraglich, ob ein Verfahren gegen den derzeitigen Betriebsrat vor dem Arbeitsgericht zu gewinnen sei.»Es muss jetzt darum gehen, Druck auf den derzeitigen Betriebsrat auszuüben, damit er in den letzten Monaten seines Bestehens einen vernünftigen Job macht.« Schließlich müsse ein Sozialplan mit der Geschäftsführung ausgehandelt werden.

Das Gerücht, der alleinige Gesellschafter der MCS, Gerald Brandt, versuche, eine Beschäftigungsgesellschaft zu gründen, um staatliche Fördermittel zu erschleichen und somit die Kosten für die 300 noch zu entlassenden MitarbeiterInnen auf den Staat abzuwälzen, bestätigte sich unterdessen nicht. »Davon ist mir nichts bekannt«, sagte Wirtschaftsstaatssekretär Volkmar Strauch (SPD) der Jungle World. Welche Arbeitsförderungsmöglichkeiten für die geschassten MitarbeiterInnen zur Verfügung stehen, liege nach der Einführung von Hartz IV mehr denn je in der Hand der Bundesarbeitsagentur, sagt Strauch. Allerdings könne sich der Berliner Senat vorstellen, an einem Runden Tisch mitzuwirken, der eine Zukunftsprognose für das Unternehmen stellt, und gegebenenfalls Mittel aus dem Liquiditätsfonds bereitzustellen.

Auch Jörg Kiekhäfer hofft auf eine Zukunft für MCS: »Bei einem so eingespielten und seit Jahren professionell arbeitenden Unternehmen muss es doch die Möglichkeit geben, eine Zukunft zu schaffen.« Um dies zu erreichen, kann sich der Gewerkschafter auch vorstellen, eine Demonstration vor der Anwaltskanzlei des Frankfurter Gesellschafters zu organisieren.

Gerald Brandt ist kein Unbekannter. Nicht nur, dass er seit Jahren als Gesellschafter die Verstöße gegen das Arbeitsrecht duldete. In den Jahren 1999 und 2001 stand der Wirtschaftsanwalt in den USA vor Gericht. Ihm wurde vorgeworfen, Ende der achtziger und zu Beginn der neunziger Jahre dazu beigetragen zu haben, einen amerikanischen Klienten um hohe Summen zu prellen, und interne Informationen an ein europäisches Konkurrenzunternehmen verraten zu haben.

Obskure Dinge gehen unterdessen bei MCS vor sich: MitarbeiterInnen erzählen der Jungle World, dass zehn im Jahr 2000 für mehrere Hunderttausend Mark angeschaffte Gemälde eines zeitgenössischen Künstlerpaars entfernt worden seien. Auch die Spinde der MitarbeiterInnen, die von denselben KünstlerInnen gestaltet wurden, scheinen zum Abtransport bereitgestellt zu werden. Stattdessen würden alte, unbrauchbare Möbel und Computer herangekarrt. Einige MitarbeiterInnen vermuten, dass bereits an der Konkursmasse gearbeitet wird. Eine Hoffung auf den Erhalt ihrer Arbeitsplätze haben sie angesichts dieser Untergangsstimmung nicht.

*Name von der Redaktion geändert