Auf den Hund gekommen

In China sind viele Frauen als Unternehmerinnen erfolgreich. Doch keineswegs alle haben sich freiwillig selbständig gemacht. von annette kaiser

Auf den ersten Blick wirkt Cheng Xi wie ein Teenager. Klein und zierlich steht sie da in ihrem blasslila Kostüm mit dem Plüschkragen, kichert immer wieder beim Sprechen. Doch wenn die 23jährige durch die riesigen Produktionshallen der Textilfirma im Norden der 2,7 Millionen-Stadt Nanjing in Ostchina geht, hören 77 Angestellte auf ihr Kommando.

Denn die junge Frau hat den Betrieb gegründet und aufgebaut. Dabei stand sie vor gerade mal sechs Jahren noch als Verkäuferin in einer Damenboutique. »700 Renminbi (umgerechnet etwa 70 Euro) habe ich damals im Monat verdient«, erzählt die Unternehmerin. Heute, sagt sie, kommt sie auf fünfzigmal so viel.

Seit die Regierung im Jahr 1998 den privaten Sektor offiziell erlaubte und rechtlich absicherte, haben tausende von Frauen in China ihre eigenen Unternehmen gegründet. Ein Viertel aller privaten Unternehmen sind nach OECD-Angaben seit der Auflösung der Planwirtschaft in Frauenhand.

»Durch den Wirtschaftsboom gibt es viele Chancen für Existenzgründer. Und Frauen wollen sich daran ihren Anteil sichern«, sagt Astrid Lipinsky, Autorin der Studie »Vom Fließband in den Chefsessel – Unternehmerinnen in China«, die in Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung in Shanghai entstanden ist. Frauen seien besonders erfolgreich, weil sie die neu erwachten Bedürfnisse rechtzeitig erkennen würden und schnell auf Veränderungen reagierten. »Denn in China kann am nächsten Tag schon wieder alles anders sein.«

Das weiß Cheng Xi nur zu genau. Massenware und Mao-Look sind out, das merkte sie als Verkäuferin schnell: »Die Frauen haben die Gleichmacherei satt. Sie wollen hervorstechen, ihren individuellen Stil betonen.« Zwar ist Mode aus den USA und Europa auch in China en vogue. Aber Importkleidung kostet hier genauso viel wie im Herkunftsland, und das bei einem geschätzten nationalen Durchschnittslohn von 1 500 Renminbi (150 Euro). »Das können sich die meisten nicht leisten.« Aus Spaß begann Cheng Xi, an einigen Kleidern in der Boutique kleine Änderungen vorzunehmen. Sie machte hier mal einen Jackenkragen etwas höher, da eine Bluse in der Taille enger. »Die Kundinnen haben mir die Sachen aus den Händen gerissen.«

Den ersten Karriereschritt wagte die frischgebackene Unternehmerin im Jahr 1999. Sie eröffnete einen kleinen Laden mit eigenen Modellen. »Die Kleider habe ich billig vom Großhändler gekauft, zwei Schneider zum Umnähen eingestellt, und los ging’s.« Nach zwei Jahren habe sie 20 000 Euro Gewinn im Jahr gemacht, erinnert sie sich. Ende 2003 bezifferte Cheng Xi ihn schon auf 45 000 Euro. Inzwischen entwirft sie Uniformen für Angestellte von Hotels und Restaurants. Zwölf Stunden am Tag arbeitet die Unternehmerin, auch am Wochenende. Doch sie sieht’s gelassen: »Am Anfang muss man eben viel machen. Aber jetzt kann jeder seine Fähigkeiten entfalten und Erfolg haben. Das will ich nutzen.«

Jahrzehntelang unterdrückte der Staat jede Eigeninitiative. Ideen zu entwickeln, neue Geschäftsmöglichkeiten zu entdecken und damit Geld zu verdienen, ist für viele Chinesen völlig neu. »Von allein kommt selten jemand auf eine innovative Geschäftsidee«, sagt Michaela Baur von der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ). In Kooperation mit dem Ministerium für Arbeit und soziale Sicherheit bietet das Unternehmen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit in Nanjing Berufsberatung, Fortbildungsmaßnahmen und Trainingskurse für Existenzgründerinnen an.

»Oft kopieren sie einfach von anderen, machen zum Beispiel ein Restaurant auf, obwohl es in jeder Straße schon zehn davon gibt«, sagt die Projektleiterin. Existenzgründerprogramme existierten in China nur vereinzelt. Ein weiteres Problem für potenzielle Ich-AGs: Das nötige Startkapital fehlt, weil das Kreditsystem noch unterentwickelt ist. Kaum eine Bank gibt neuen Unternehmen Geld. Leichter haben es diejenigen, die schon erfolgreich sind und expandieren wollen. In einigen Städten wie in Nanjing oder im benachbarten Shanghai vermitteln deshalb Arbeitsämter und der Allchinesische Frauenverband, eine staatliche Massenorganisation, Kleinkredite bis maximal 2 000 Euro. »Aber auch die verlangen Sicherheiten. Die meisten kratzen ihr eigenes Geld zusammen oder pumpen die Familie an.«

Wang Jianling etwa beschaffte sich das nötige Startkapital von 36 000 Renminbi (3 600 Euro), indem sie das bescheidene Häuschen ihrer verstorbenen Eltern verkaufte. Denn nach ihrer Entlassung hatte sie nur ein paar tausend Yuan in der Tasche. »Das reichte nicht«, erzählt die 42jährige. Buchhalterin war sie früher im Nanjinger Amt für Zivilschutz. Doch dann wurden ihre Eltern schwer krank. »Ich konnte mich nicht genug um sie kümmern, weil ich das einzige Kind war.« Ihr Vater und ihre Mutter starben später im Krankenhaus. Aus der Erfahrung wurde eine Geschäftsidee: ein Altenheim.

»So wie mir geht es vielen Chinesen. Traditionell müssen die Kinder ihre Eltern im Alter versorgen. Aber durch die Ein-Kind-Politik sind viele damit überfordert.« Um das Bevölkerungswachstum zu bremsen, versucht die Regierung, mit rigorosen Maßnahmen wie hohen Bußgeldern die Familien zur Beschränkung auf ein Kind zu zwingen. Die höheren Belastungen für Einzelkinder wurden früher zum Teil durch informelle Toleranz kompensiert. Wer in einem staatlichen Betrieb gearbeitet hat, konnte schon mal später kommen oder früher gehen. Es kam ja nicht so darauf an. In privaten Betrieben wird das nicht geduldet. »Junge Leute arbeiten in privaten Firmen oft zehn, zwölf Stunden am Tag. Da bleibt keine Zeit für die Alten.« 1998 gründete Wang Jianling eines der ersten privaten Altersheime in ihrem Heimatort Nanjing. Inzwischen besitzt sie fünf Häuser für Senioren in den Provinzen Shandong, Urumuqi und Anhui. »Demnächst will ich einen ambulanten Service und eine Gesundheitsberatungsstelle eröffnen. Altenbetreuung ist der Markt der Zukunft.«

Neue Geschäftsmöglichkeiten locken viele in die Selbständigkeit. Für andere ist die Gründung eines Unternehmens jedoch die einzige Chance nach ihrer Entlassung. Wang Jing zum Beispiel hätte lieber ihren alten Job zurück. »Früher verdiente ich zwar nicht viel. Aber mein Geld war sicher«, sagt die 41jährige. Zusammen mit einem pensionierten Tierarzt hat die ehemalige Arbeiterin einer staatlichen Textilfabrik eine Kleintierpraxis eröffnet.

In Chinas Großstädten sind Hunde jetzt groß in Mode. Doch nicht mehr als Köstlichkeit auf der Speisekarte, sondern als Haustier. Das ist ein Zeichen für den wachsenden Wohlstand einer neuen Mittelschicht, denn so ein Vierbeiner kostet umgerechnet bis 300 Euro Hundesteuer im Jahr. »Aber nur wenige kommen damit zum Tierarzt. Wenn er krank wird und stirbt, kaufen sie sich einfach einen neuen.« Den Kadaver werfen sie oft in einen Fluss, Tierfriedhöfe gibt es in China nicht. Manchmal macht Wang Jing sich Sorgen, wie sie über die Runden kommen soll. Aber nach ihrer Entlassung hatte sie keine Wahl: »Ich habe überall gesucht, aber keine Arbeit gefunden.«

Angestellte von Staatsbetrieben sind die größten Verlierer der gigantischen Reform des Arbeitsmarktes, die in China Anfang der neunziger Jahre begonnen hat. Von 1998 bis 2003 gingen durch die Privatisierung der Staatsbetriebe nach westlichen Schätzungen zwischen 24 und 26 Millionen Jobs verloren. »Frauen sind davon besonders betroffen«, sagt Margot Schüller vom Hamburger Institut für Asienkunde. »Zwei Drittel aller weiblichen Berufstätigen waren in Staatsunternehmen beschäftigt, zum Beispiel in der Textilindustrie.« Außerdem sei deren Bildungsniveau im Durchschnitt niedriger als das der Männer. Deshalb hätten sie dort meistens die einfachen Jobs gemacht, und die seien zuerst wegrationalisiert worden.

»Frauen über 30, die nur einen Grundschulabschluss haben, sind auf dem Arbeitsmarkt kaum vermittelbar«, sagt Schüller. Für sie gibt es keine Alternative. Ein Arbeitsloser bekommt in China nach fünf Jahren als Angestellter in einem Staatsbetrieb ein Jahr lang je nach Region zwischen 26 und 40 Euro Arbeitslosengeld im Monat. Hat er zehn Jahre gearbeitet, verlängert sich sein Anspruch um sechs Monate. Dann ist Schluss. Es gibt eine Art Sozialhilfe, die 2003 im Landesdurchschnitt bei 5,30 Euro monatlich lag. Eigentlich soll sie von den Lokalregierungen ausgezahlt werden. »Das klappt aber nur in reichen Städten wie Shanghai oder Shenzhen. In ärmeren Regionen sind die Lokalregierungen meistens pleite«, sagt Schüller.

Soziale Sicherung existiert nur in den Städten. Wer wie zwei Drittel der Bevölkerung auf dem Land lebt oder sich illegal als Wanderarbeiter durchschlägt, geht leer aus. Das kann einem auch in der Stadt passieren – wenn man für eine private Firma arbeitet. So wie die 30jährige Xu Weidong. Von einem auf den anderen Tag wurde die ehemalige Büroangestellte auf die Straße gesetzt. »Jetzt stehe ich ohne Geld da. Ich fühle mich total schlecht, weil ich die Familie nicht unterstützen kann.«

Zwar verdient ihr Mann als Facharbeiter 1 500 Renminbi (150 Euro). »Aber 1 000 Renminbi müssen wir jeden Monat an die Bank zurückzahlen. Das ist die Rate für den Kauf unserer Wohnung, in der wir vorher Mieter waren.« 400 Renminbi gehen fürs Essen drauf. »Und nächstes Jahr kommt mein Sohn in die Schule. Die kostet 500 Renminbi im Monat.« Bildung war früher kostenlos. Doch seit die Regierung im Jahr 1993 Privatschulen erlaubt hat, werden die Eltern kräftig zur Kasse gebeten. »Wenn meine Familie nicht einspringen würde, wüsste ich nicht, was ich machen soll«, sagt Xu Weidong.

Jetzt nimmt sie an einer Umschulung zur Haushaltshilfe teil, die das Nanjinger Arbeitsamt und die GTZ organisiert haben. Sie hofft, dadurch Jobs bei Familien reicher Auslandsmanager zu ergattern. »Egal ob selbständig oder nicht, ich mache alles. Hauptsache, es bringt Geld.«